Keine Pizza für Commissario Luciani
kommen mussten.
»Es war ein Wutanfall, ein Ausraster.«
Ranieri presste die Lippen zusammen. »Das ist nur natürlich. Besonders bei jemandem, der jeden Tag für Gerechtigkeit kämpft.
Die Antwort kann aber nie individuell sein. Wir brauchen allgemein akzeptierte Gesetze, die sich auf |315| den Gemeinsinn stützen und eben auf die Gewissheit der Sanktion. Ich denke, das sind die Grundlagen für eine moralische Erneuerung
des Landes.«
»Wissen Sie, was ich denke, Herr Minister? Mit diesen Ideen werden Sie Karriere machen. Ich glaube, dass Sie im Kulturministerium
bald schon unterfordert sein werden.«
Ranieri lächelte und blähte sich vor Stolz. »Warum nicht? Ich bin ein Befürworter der demokratischen Gesellschaft, aber auch
der Leistungsgesellschaft. Und ich denke, der Einzelne und der Staat sollten nicht immer im Gegensatz stehen, sondern zu einem
höheren Zweck zusammenarbeiten, von dem beide profitieren. Dies gilt für meine Karriere wie für die Bronze von Lysipp und
für jeden, der Ideen und Initiative zeigt. Wir Italiener können weiter Individualisten bleiben, aber wir müssen aufhören,
den Staat als Feind zu betrachten.«
Marco Luciani nahm noch einen Schluck Lemonsoda.
»Verraten Sie mir eines, Herr Professor. Warum ist diese Statue für Ihr Projekt so wichtig? Reicht nicht das Gefängnis, dessen
Struktur und seine Konzeption?«
Der Minister suchte eine bequemere Position auf dem Stuhl.
»Theoretisch schon, Commissario. Ein Gefängnis ohne Hoffnung ist aber nur ein Zuchthaus. Können Sie sich eine Kirche ohne
Kruzifix oder einen Hafen ohne den Leuchtturm in der Nacht vorstellen? Oder New York ohne Freiheitsstatue? Die Schönheit leitet
uns, auch wenn wir das nicht immer merken. Genau das ist die Aufgabe der Kunst: uns Hoffnung zu geben und uns daran zu erinnern,
dass wir nicht geschaffen wurden, um wie das Vieh zu leben.«
»In Italien herrscht kein Mangel an Statuen und schönen Dingen. Unsere Museen sind voll davon.«
»Die Museen töten die Schönheit ab, Herr Kommissar. Sie sind wie der Zoo für die Tiere. Okay, besser als nichts, |316| aber wie wollen Sie einen Löwen, den Sie im Käfig betrachten, mit einem in der Savanne vergleichen? Die Museen sind kein Ort
des Studiums mehr, sondern die Leute rennen da zu einem Event, sie trotten hinter einem Führer mit Fähnchen her, von einem
Saal in den nächsten, an einem Vormittag stolpern sie durch zwanzig Jahrhunderte Menschheitsgeschichte, und wenn sie nach
Hause zurückkehren, bleiben ihnen nur zwei Postkarten, die sie in irgendeiner Schublade vergessen, und furchtbare Fußschmerzen.
Wozu soll das gut sein?«
Marco Luciani lächelte schwach. Der Minister übertrieb, aber er hatte nicht ganz unrecht.
»Sehen Sie«, setzte dieser wieder an, »das Problem ist, dass die Kunstwerke ihre soziale Funktion verloren haben. Ich rede
vor allem von Malerei und Bildhauerei. Die Architektur ist teilweise noch nützlich, weil sie eine ordentliche Portion Schmiergelder
sichert, aber das ist ein anderes Thema. Tatsache ist, dass die Künstler früher für einen privaten Auftraggeber arbeiteten
und daher Porträts schufen, die für die Salons der Reichen bestimmt waren. Oder für einen öffentlichen Auftraggeber, die Stadt
oder die Kirche. In diesem Fall konnte ihr Werk viele Funktionen haben. Eine Geschichte erzählen, wie zum Beispiel die Erschaffung
der Welt an den Wänden des Doms zu Modena. Einen Sieg feiern und damit Nationalstolz, Vaterlands- und Gemeinsinn festigen,
wie der Arc de Triomphe. Oder den Gläubigen die Taten der Heiligen nahebringen, wie die Cappella degli Scrovegni, oder ihnen
als ewige Mahnung dienen, wie das Jüngste Gericht. Was ich sagen will, ist, dass die Kunstwerke einst in der Gemeinschaft
lebten, frei, und eine Funktion erfüllten, die tatsächlich auf das Alltagsleben einwirkte. Sie waren nicht nur ›schöne Dinge‹,
Exponate fürs Museum. Wenn jemand eine wohltuende Auszeit an einem stressigen, von der Hässlichkeit |317| dominierten Tag braucht, dann sollte er lieber in einen Whirlpool steigen.«
Er lächelte ob seiner Pointe, die er wohl schon zigmal angebracht hatte, dann zündete er sich einen Toscano an, ohne zu fragen,
ob das den Kommissar störte.
»Als der erhabene Lysipp diese Statue schuf, tat er das sicher nicht für einen Privatmann«, fuhr er fort. »Ich glaube, dass
sie vor einem Gerichtsgebäude aufgestellt werden sollte oder vielleicht besser noch auf
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