Keine Pizza für Commissario Luciani
suchte. Kaum an Land, hatte der kleine Marco den Strand geküsst und bei der Madonna del Boschetto geschworen,
dass er nie wieder einen Fuß auf ein Boot setzen würde.
»Guten Tag, Signor Marietto, wie geht’s Ihnen?«
Der Mann warf ihm einen raschen Blick zu und antwortete nicht, sondern zuckte nur mit dem Kopf, was alles |54| Mögliche bedeuten konnte. Aufgepasst, sagte er sich und warf einen Blick auf das Fischmesser, das er in der Hand hielt.
»Etwas Schönes gefangen heute?«
»Ach, inzwischen fahre ich kaum noch raus. Aber die Jungs haben einen guten Fang gemacht. Liegt alles bei Marcella«, sagte
er in der Hoffnung, den Nervtöter loszuwerden.
»Jungs« nannte er die Seeleute, die ein paar Jahre weniger auf dem Buckel hatten als er. Mit ihnen hatte er viele Jahre lang
gefischt, heute half er ihnen beim Flicken der Netze oder bei anderen Arbeiten, um aktiv zu bleiben. Wenn jemand fehlte und
das Wetter gut war, nahmen sie ihn manchmal sogar noch mit hinaus.
Der Kommissar fragte, ob er sich setzen dürfe. Sein Gegenüber betrachtete ihn misstrauisch. Marco merkte, dass er ihn noch
immer nicht erkannt hatte.
»Wirklich schön hier«, sagte er, ein bisschen lauter. »Mein Vater Cesare hat viel Zeit hier verbracht, erinnern Sie sich?«
Dieser Satz brachte ein Flackern in die Augen des Fischers. Klar doch. Der Sohn des ›Großen Cäsar‹. Fast hätte ich mich blamiert,
dachte er und bedeutete Marco, sich zu setzen.
»Na und ob! Wie geht’s Ihrem Vater denn? Er war schon eine ganze Weile nicht mehr hier.«
Marco Luciani betrachtete ihn verdutzt. Er wusste genau, dass er den Fischer bei der Beerdigung gesehen hatte.
»Mein Vater ist seit ein paar Monaten nicht mehr.«
»Ist nicht mehr? Sie meinen, er ist tot?«
»Genau.«
Ich hatte wohl so was läuten hören, dachte Marietto. Ich hatte es erfahren und wieder vergessen. Das Beste war jetzt, die
Sache zu überspielen. »Das tut mir sehr leid, wissen Sie. |55| Er war ein guter Mensch, großzügig. Ein echter Signore. Genau: ein Signore.«
Mein Vater war ein Dieb, einer, der Schmiergelder einsammelte, wollte der Kommissar erwidern. Einer, der die Armen bestahl,
um es den Reichen zu geben, und er hat weniger im Knast gesessen, als er verdient hätte. Ich kann ihn vielleicht gernhaben,
weil er nun mal mein Vater war, aber ich verstehe nicht, wie ein Fischer, der sich sein ganzes Leben lang den Arsch aufgerissen
hat, um über die Runden zu kommen, an jemanden wie meinen Vater mit Wehmut zurückdenken kann.
»Mit Ihrem Vater verstand ich mich gut, auch wenn wir nicht gerade dieselben Ansichten hatten. Als ich in den Bergen kämpfte,
rannte er in der Uniform der faschistischen Jugend rum. Aber in dem Alter, was soll ein Kind da schon kapieren?«
Er hätte auch als Erwachsener das schwarze Hemd der Faschisten getragen, dachte Marco Luciani. Und wenn es nur um des Geldes
willen gewesen wäre, das sich auf jener Seite der Barrikade leichter verdienen ließ.
»Und wissen Sie was? Damals waren die Unterschiede wenigstens klar. Feinde, aber fair, von Angesicht zu Angesicht. Heute dagegen
sind alle gleich. Gleich beschissen.«
»Okay, Signor Marietto, aber jetzt sagen Sie nicht, dass die Zeiten damals besser waren, mit dem Krieg, der Armut und allem
anderen.«
»Es ging uns besser! Wir wussten wenigstens, gegen wen wir zu kämpfen hatten. Und wir hofften, dass wir etwas verändern würden.
Als wir in den Bergen waren, da schossen sie alle auf uns: die Deutschen, die Faschisten, die Katholiken und allen voran die
Kommunisten.«
Marco Luciani wiederholte still die Liste und fragte sich, wer da noch übrig war auf dem Schlachtfeld. »Entschuldigen Sie,
aber auf welcher Seite haben Sie denn dann gekämpft?«
|56| »Ich? Bei den Anarchisten! Ich war immer Anarchist. Immer auf Seiten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Wahrheit.«
Der Kommissar nickte, wenig überzeugt, während Mariettos Augen sich entflammten.
»Wissen Sie, was dieses Land in den Ruin treibt?«
Die Tatsache, dass jeder treibt, was er will, dachte der Kommissar. Die Tatsache, dass alle Italiener Anarchisten sind.
»Der Staat. Die Kirche. Die Polizei. Der …« Er hielt schlagartig inne. War Cesares Sohn nicht Polizist? Ein Kommissar. Ja,
der Vater hatte das oft genug erzählt. Pass auf, Marietto, pass auf, was du sagst.
Marco Luciani lächelte still in sich hinein. Die Alten waren im Grunde alle gleich. Das Gelbe vom Ei war immer das, was ihnen
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