Keine Pizza für Commissario Luciani
niemand sonst von der Existenz der Statue wusste. Nach dem Tod seines Vaters hatte er,
mit der gebotenen Vorsicht, ein paar Dinge überprüft. Ein Fragment der Skulptur, die Settimo damals offensichtlich schon teilweise
hatte restaurieren lassen, war in aller Verschwiegenheit einer ersten Kohlenstoffanalyse unterzogen worden, mit befriedigendem
Ergebnis. Nach Ludovicos Meinung bestanden beste Aussichten, dass dies |60| das Werk des größten Bildhauers aller Zeiten war, Lysipps, des Lieblingskünstlers von Alexander dem Großen. Der Einzige, dem
gestattet war, den Kaiser in offizieller Pose oder während der Löwenjagd zu porträtieren. Was man über Lysipp wusste, hatte
man von einigen römischen Marmorkopien seiner Werke abgeleitet, die Originale aus Bronze waren dagegen für immer verloren.
In den letzten Jahren hatte man ihm den Athleten von Fano zugeschrieben, den man in den sechziger Jahren aus der Adria gefischt
hatte und der heute Gegenstand eines Streites zwischen Italien und dem Getty Museum in Los Angeles war, zu dessen Exponaten
er zählte. Ludovico war kein Experte für Bildhauerei, aber die Parallelen zwischen dem Athleten und seiner Bronzeskulptur
waren augenfällig. Der Stil, die Technik, die Präsenz des Bildhauers in Italien, alles passte zusammen. Der Fundort Ventotene
– eine Insel, auf die man in der Antike Sünder verbannt hatte – ebenso wie einige Charakteristiken der Statue hatten ihn zu
der Überzeugung gebracht, dass es sich um eine Göttin der Gerechtigkeit handeln musste. Die »Themis von Lysipp« hatte er sie
getauft. Gott allein wusste, wie sehr Italien in diesen Tagen Gerechtigkeit brauchte. Und die Tatsache, dass die Themis sich
ihm gezeigt hatte, erschien ihm als ein Zeichen, dass das, was er tat, das Richtige war, dass das Schicksal auf seiner Seite
war und ihm das Siegerblatt bescheren würde.
Alles hing jedoch von der ersten Karte ab, die er gezogen hatte, der Kreuzdame. Ludovico hatte ihr versprochen, dass er sie
nie wieder betrügen würde. Ein Damenpärchen in Händen zu halten, war eine unwiderstehliche Verlockung, führte am Ende jedoch
zu nichts. Wichtiger waren der Familienfrieden, Wohlstand und die Aussicht auf eine politische Karriere. So hatte er die Herzdame
abgeworfen und sich in den letzten fünf langen Jahren nur hin und wieder ein bisschen Abwechslung mit Damen vom Gewerbe |61| gegönnt, die höchst verschwiegen und zuverlässig, wenn auch ein wenig kostspielig waren. Und er hatte es vor allem im Ausland
getan, wenn ihn irgendeine Konferenz nach Russland oder Nordeuropa führte.
Sicher, Studentinnen waren etwas anderes, sie waren die verbotene Frucht. Noch immer schaute er sich manchmal, in gewissen
einsamen Sommernächten, ein paar der Videos an, die er mit ihnen in irgendeinem Hotelzimmer an der Amalfiküste gedreht hatte.
Das waren die Glanzpunkte seines Lebens gewesen, wenn er sich auf der Terrasse eine Zigarre ansteckte und daran dachte, dass
in seinem Bett der geschmeidige, warme Körper einer jungen Frau auf ihn wartete. Dann fühlte er sich wie der Herr über jenen
Küstenstreifen, wie ein Pirat, der die Tochter des Gouverneurs entführt hatte. Er tat etwas Verbotenes, jawohl, aber auch
etwas absolut Herrliches. Wenn man ihn entdeckte, würde man ihn aufknüpfen und tagelang baumeln lassen, und die aufgebrachte
Menge würde seine Leiche im Namen der gesellschaftlichen Normen, des Kirchenbanns, der heuchlerischen Moralvorstellungen über
die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler anspucken. Aber in jenen Momenten totalen Glücksrausches wäre jeder, absolut jeder,
gerne an seiner Stelle gewesen.
Er merkte, wie seine Frau ihm das Whiskeyglas aus der Hand nahm und einen Schluck daraus trank. Dann pressten sich ihre großen,
vom Stillen erschlafften und von Trägern und Drähten gestützten Brüste gegen seinen Rücken.
»Was ist?«, fragte sie. »Kannst du nicht schlafen?«
Er seufzte. »Ich habe gerade an … die Wahlen gedacht. Diesmal muss ich dabei sein.«
»Papa meint, es sei noch zu früh. Du könntest dein Pulver verschießen. Du bist gerade erst Rektor geworden und …«
»Papa hier, Papa da. Zählt denn nur, was dein Vater sagt? |62| Warum sollte ich noch zehn Jahre in der Provinz herumhocken, wenn doch die eigentliche Partie in Rom gespielt wird? Für deinen
Vater wird nie der richtige Moment kommen, er will mich nur auf Abstand halten. Ich aber will nicht länger warten, ich weiß,
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