Keine Pizza für Commissario Luciani
Argenta hat aber gemeint, das war keine Absicht, er wollte ihn nur erschrecken, und dass jedenfalls
weder Fluchtnoch Rückfallgefahr besteht. Klar, kaum war er wieder draußen, hat er noch einen gekillt, und dann ist er abgehauen. |48| Wer weiß, wo er jetzt steckt. Ich meine, ist es denn so schwer, solche Typen im Knast zu lassen? Die sollte man direkt den
Angehörigen der Opfer übergeben.«
Livasi sah, dass der Kommissar kam, schüttelte missbilligend den Kopf und hob ein wenig die Stimme. »Man darf keine Selbstjustiz
üben, Iannece. Auch ein Mörder hat das Recht auf einen fairen Prozess.«
»Ich meine ja auch nicht die Mörder, sondern die Richter«, platzte Iannece heraus, »die Mörder zahlen früher oder später die
Zeche, sie finden immer einen, der noch fieser ist als sie, die Richter dagegen können sich jeden Bockmist erlauben und werden
nie zur Rechenschaft gezogen. Zum Glück arbeiten sie wenig, das begrenzt den Schaden.«
Livasi warf Luciani einen um Einverständnis heischenden Blick zu. »Ich muss schon sagen, Iannece, du lässt wirklich keinen
Gemeinplatz aus: kriminelle Zigeuner, faule Richter …«
Der Oberwachtmeister schaute ihn herausfordernd an: »Bei allem Respekt, Herr Vizekommissar, wenn sie ›Gemeinplätze‹ genannt
werden, dann deshalb, weil sie gemeinhin vorkommen. Sonst würden sie ja ›Sonderplätze‹ heißen.«
Marco Luciani lächelte. »Und dasselbe gilt für die Vorurteile, stimmt’s, Iannece?«
»Klar. Vor-Urteile. Das sind Urteile, die vorher schon gefällt wurden, in Jahren, Jahrhunderten der Beobachtung bestimmter
Phänomene oder Gruppen von Menschen, und über Generationen hinweg weitergegeben, damit die Neulinge vorgewarnt sind.«
Livasi betrachtete sie und wusste nicht, ob sie Spaß machten oder es tatsächlich ernst meinten. Er war an die Kommentare seiner
Kollegen über Frauen, Schwuchteln, Neger und Kommunisten gewöhnt, aber dies war ein neues |49| Niveau der Niveaulosigkeit, auf dem er sich nicht zu bewegen verstand. Er setzte ein schiefes Lächeln auf, das bedeuten konnte,
dass er das Spiel durchschaut hatte. Dann fragte der Kommissar, ob es Neuigkeiten gebe, wurde jedoch enttäuscht. Diese Friedhofsruhe
setzte ihm allmählich zu, aber er wusste, dass sie nicht lange vorhalten würde. Mit den Feiertagen würden die Familientreffen
beginnen, die Umarmungen, die Wiedersehensfreude und das Auspacken der Geschenke. Aber auch die Suizidfälle derjenigen, die
allein geblieben waren, die Amokläufe der Exmänner, die Frau und Kinder auslöschten, und die Schlägereien in den Nachtclubs.
Er würde eine Menge Arbeit haben und damit einen exzellenten Vorwand, sich nicht um eine neue Wohnung zu kümmern, um seine
Mutter, um den Garten, das Erbe.
»Okay, Leute, es gibt immer noch diese
cold cases
, kalte Fälle, die seit Jahren darauf warten, gelöst zu werden.«
»Können die nicht noch ein bisschen länger warten?«, protestierte Calabrò.
»Ich habe genug mit dem kalten Fall bei mir im Bett zu tun, versuchen Sie mal, die Füße meiner Frau warmzukriegen!«, sagte
Iannece.
»Außerdem steht Weihnachten vor der Tür, Commissario. Machen Sie uns dieses kleine Geschenk«, bettelte Vitone, der sich inzwischen
dazugesellt hatte.
»Keine Ausreden, Jungs. Auch zu Weihnachten wird einem immer wieder mal ein recyceltes Geschenk angedreht.«
Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und las zigmal die Akte eines alten Falls mit äußerst mageren Zeugenaussagen. Aber
nach nicht einmal einer halben Stunde schlug er sie mit einem Seufzer wieder zu. Es kam ihm keine Eingebung, auch deshalb
nicht, weil ihn ein pochender |50| Kopfschmerz quälte, der ihn immer wieder hinterrücks anfiel. Er musste dann jedes Mal die Augen schließen und reglos abwarten,
bis die Attacke nachließ. Er fühlte sich schwach, antriebslos. Vielleicht war tatsächlich der Moment gekommen, zu dieser Wunderheilerin
zu gehen. Was konnte sie bei ihm schon noch kaputtmachen?
|51| Neun
Luciani und Risso
Camogli, heute
Marietto zog Segeljacke und Wollmütze über und schulterte den Seesack, den er überallhin mitschleppte. Schwester Andreina,
die Pförtnerin des San-Luigi-Heims, warf ihm das übliche milde Lächeln zu. »Wir haben Tramontana, Signor Mario. Ziehen Sie
einen Schal an.«
»Von Schals bekommt man Halsweh, Schwester. Ich habe nie einen getragen und bin nie krank geworden.«
Die Schwester lächelte, als handelte es sich um einen Scherz,
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