Keine Pizza für Commissario Luciani
Jahren, gehüllt in einen Seidenschal und in der Hand ein Holzköfferchen,
in die Praxis kam. »Herr Luciani? Bitte, kommen Sie mit. Bin ich zu spät?«, fragte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Nein,
Sie sind zu früh, ein Zeichen für Ängstlichkeit.« Sie betrachtete ihn mit halbgeschlossenen Lidern, schüttelte den Kopf und
sagte: »Au ja, au ja, au ja.« Dann schloss sie die Untersuchung mit einem: »Aber seien Sie ganz beruhigt, wir bringen alles
wieder hin.«
Frau Doktor Raggi nahm Platz, setzte eine violette Brille auf und redete zehn Minuten lang ununterbrochen, Anekdoten aus ihrem
letzten Gebirgsurlaub mit Rechenschaftsberichten über den Gesundheitszustand ihres Gatten mischend, dazwischen schaltete sie
Fragen, auf die der Kommissar bestenfalls einsilbige Antworten geben konnte. Derweil hatte sie das Köfferchen geöffnet, in
dem sich Dutzende Ampullen mit mysteriösen Flüssigkeiten befanden. Während sie diese aus den entsprechenden Fächern nahm und
jene auswählte, die sie besonders interessierten, suchte Marco Luciani die Wände nach irgendeinem Universitätsdiplom, nach
einer Urkunde über den Besuch eines Erste-Hilfe-Kurses oder wenigstens einem Post-it mit dem Namen »Raggi« ab. Nichts davon
war zu sehen.
Die Wunderheilerin, denn inzwischen hatte er sie innerlich so getauft, stellte ihm nun gezieltere Fragen zu seinen Beschwerden.
Zu dem, was er aß und was er nicht aß, aber auch zu seiner Kindheit, zu seinem Verhältnis zu den Eltern, sie fragte, ob er
Geschwister habe, eine Freundin, welchem Beruf er nachging. Marco Luciani sagte die Wahrheit in Bezug auf das Essen und seine
permanenten Kopfschmerzen, alles andere betreffend, log er mit Stringenz und Methode.
Während er redete, unterbrach die Wunderheilerin ihn hin und wieder und legte ihm eine Ampulle in die Hand. Er |66| musste sie zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand klemmen und mit den entsprechenden Fingern der linken einen Ring
bilden. Diese Okay-Zeichen musste er mit aller Kraft halten. Während er in der Rechten die Ampulle hielt, versuchte die Wunderheilerin,
die Finger der Linken zu öffnen. Gelang ihr das, bedeutete es, er war schwach, weil er eine Allergie oder Intoleranz hatte
gegen die Substanz, die er in der anderen Hand hielt. Gelang es ihr nicht, hieß das, die Schwingungen jener Substanz interferierten
nicht mit denen seines Körpers, entzogen diesem also keine Energie.
Marco Luciani hatte den deutlichen Eindruck, dass sie das alles nur vorspiegelte. Dass sie eine geheime Technik kannte, um
den Ring zu öffnen, wie ein Fischer aus Saint Malo, der mühelos Austern öffnet. Und wenn sie wollte, dass der Ring geschlossen
blieb, tat sie so, als schaffte sie es nicht, ihn aufzustemmen. Unterdessen erzählte die Wunderheilerin ihm von den drei Hütern,
die über unser Leben wachen, von den drei Grundtypen des menschlichen Charakters, von den sieben Feinden, die unser körperliches
Gleichgewicht gefährden.
Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht, ich glaube es nicht, dachte Marco Luciani, während er Daumen und Zeigefinger mit
aller Kraft zusammenpresste und sah, wie sie sich einen Augenblick später aufbogen wie die eines Säuglings.
»Ihr Feind ist der Weizen«, lautete das Urteil der Wunderheilerin am Ende der Sitzung.
»Der Weizen? Sind Sie sicher? Das ist das Einzige, was ich esse.«
»Leider. Übrigens ist er der Feind von vierzig Prozent aller Menschen. Haben Sie geplatzte Äderchen?«
»Nein.«
»Manchmal Nasenbluten?«
|67| »Nein.«
»Schlafstörungen?«
»Nein.«
»Erektionsprobleme?«
»Nein!«, schrie er fast.
»Gut. Das bedeutet, dass der Weizen Ihren Organismus noch nicht im Kern angegriffen hat. Aber das Risiko besteht. In den siebziger
Jahren ist der Weizen mit Gammastrahlen beschossen worden, dadurch ist der Glutenanteil auf achtzehn Prozent gestiegen. Der
Weizen ist Ihr Feind, Herr Luciani, und den müssen wir bekämpfen.«
»Und was kann ich da machen? Eine Diät?«
»Die einzig mögliche Diät ist die Abstinenz. Sie werden auf alles verzichten müssen, was Weizenmehl enthält. Aber Kamut-Brot
dürfen Sie essen. Das ist exquisit. Ich verschreibe Ihnen auch einige homöopathische Mittel …«
»Nein, hören Sie, das mit den Ampullen ist okay, auch der Fingerring ist okay, aber bitte keine Homöopathie!«, platzte der
Kommissar heraus. »Wer auch nur ein bisschen in Chemie aufgepasst hat, weiß, dass das nichts bringt.« Diesen
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