Keine Zeit für Vampire
Wald auch mir eine Gänsehaut verursachte. Er schien irgendwie wie nicht von dieser Welt. »Ich finde ihn schön. Ich liebe es, wie das Sonnenlicht durch die Zweige der dichten Tannen und Kiefern fällt. Das ist ein wundervoller Anblick. Siehst du dort drüben, gleich bei dem Stein, der aussieht wie eine schlafende Katze? Siehst du, wie das Sonnenlicht wie Honig um die Äste fließt? Und diese Ranken, was auch immer für Pflanzen das sein mögen, sehen aus wie grüne und braune Luftschlangen, die von den niedrigen Zweigen der Bäume bis zum Boden herabhängen und uns sachte zuwinken.« Fasziniert ging ich einige Schritte auf den Wald zu und begutachtete die Szenerie mit dem kritischen Auge des Fotografen. Die Bildkomposition war einfach perfekt. »Die Ranken wiegen sich in der leichten Brise – aber sag selbst, Gretl, man kann sich doch ohne Weiteres vorstellen, dass sie lebendige Wesen sind, die unvorsichtige Wanderer anlocken und sie dann immer tiefer und tiefer in das kühle, finstere, geheimnisvolle Herz des Waldes ziehen, bis man es schließlich findet …«
»Bis man was findet?«, fragte Gretl. Sie sprach leise, doch ihre Stimme klang trotzdem schrill und brach den Bann, der mich beim Anblick der wunderschönen Natur befallen hatte.
Bei dem Gedanken, was sich wohl im Herzen dieses Waldes verbergen mochte, überlief mich seltsamerweise ein kalter Schauer. Schnell schüttelte ich diese Hirngespinste ab und lächelte Gretl entschuldigend an. »Na, zweifellos noch mehr Bäume. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Normalerweise bin ich eigentlich ein ganz bodenständiger Mensch, aber dieser Wald macht mich irgendwie ganz emo.«
»Emo?« Gretl zitterte und rieb sich die Arme. »Emotional meinst du?«
»Ja.«
»Kann ich dir nicht verübeln. Ich mag diesen Wald nicht. Das ist ein schlechter Ort, und die Vorstellung, dass du dort einen ganzen Tag zubringen möchtest, behagt mir ganz und gar nicht. Er ist irgendwie unnatürlich.«
»Aber versteh doch, Gretl – genau diese unnatürliche, jenseitige Atmosphäre möchte ich auf meinen Fotos einfangen. Kannst du dir nicht auch ein Bild von Imogen mit dem Wald im Hintergrund vorstellen? Ein bisschen Photoshop-Zauberei und voilà – schon habe ich eine fantastische Fotoserie, die sich bestimmt gut verkaufen lässt oder sich zumindest toll in meinem Portfolio machen würde.«
»Aber du wirst dort ganz allein sein«, warf sie sorgenvoll ein. Ich hob derweil meine Tasche vom Stein, holte die Kamera heraus und hängte sie mir um den Hals. »Hast du denn keine Angst?«
»Ich? Ach was, ich bin von Natur aus neugierig. Ich erkunde gerne geheimnisvolle Orte. Außerdem …« Ich zog ein kleines Behältnis aus der Tasche, das in etwa die Größe meiner Handfläche hatte. »Ich habe ja noch dein Pfefferspray. Wenn sich dort drin also irgendwelche Verrückten herumtreiben und auf die Idee kommen sollten, mich zu attackieren, bin ich bestens gerüstet. Okay?«
»Ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl«, beharrte sie kopfschüttelnd.
»Ich weiß, aber warte erst mal ab, bis du hinterher die Bilder siehst. Die werden dich bestimmt vom Hocker hauen.« Ich sah auf die Uhr. »Könntest du mich um sechs Uhr wieder abholen? Ist dein Treffen mit dem Buchclub dann schon zu Ende?«
»Ja, sechs Uhr passt mir gut. Sei vorsichtig, Io.«
»Versprochen! Mir wird nichts passieren. Ich verbringe lediglich einen Tag in einem unheimlichen Wald, lasse mich von den Stechmücken beißen und schieße eine Unmenge an tollen, stimmungsvollen Fotos.«
»Ich hoffe, dass dich sonst nichts beißt«, unkte sie, stieg zu meiner Erleichterung aber dennoch in ihr kleines – aber teures – Auto und ließ den Motor an.
Ich winkte ihr zum Abschied, strich mein blau-weißes Sommerkleid zurecht, schulterte die Kameratasche, holte noch einmal tief Luft und machte mich dann auf den Weg in den Wald. Dabei grübelte ich über ihre Worte nach. »Sie hofft, dass mich sonst nichts beißt ?« Kopfschüttelnd trat ich aus dem warmen Sonnenlicht in die kühlen Schatten des dichten Waldes. Der Duft von Kiefernadeln lag in der Luft, und unter meinen Füßen knirschten vertrocknete Zweige. »Was soll mich hier denn bitteschön beißen? Ein Vampir vielleicht? Ha! Da kann ich ja nur lachen.«
Das tat ich auch, doch mein Lachen klang verkrampft und seltsam hohl, so als würde ich selbst nicht recht daran glauben.
»Die Bäume und die Ranken und dieses seltsame, trügerische Licht, das beinahe so aussieht, als
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