Keine Zeit für Vampire
du möchtest.«
Imogen sah mich für einen Moment verblüfft an, doch dann lächelte sie. »Das ist aber nett von dir. Es ist schon … ewig her, dass mich jemand fotografieren wollte. Es wäre mir eine Freude. Allerdings bleiben wir nur fünf Tage in St. Andras. Weißt du, wir gönnen uns gerade ein wenig Urlaub und öffnen den Stand immer nur für einige Stunden.«
»Also …« Ich sah zum Horizont. Es dämmerte bereits, und der Himmel über der dunklen Bergsilhouette erstrahlte in einem tiefen Purpurrot. »Heute Abend bist du ja mit deinen schönen Steinen beschäftigt …«
»Das sind Runensteine«, unterbrach sie mich und berührte andächtig einen dunkelvioletten Stein mit einem eingravierten Symbol. »Ich arbeite gerne mit ihnen, obwohl ich gelegentlich auch aus der Hand lese.«
»Aha. Runensteine. Interessant.«
Imogen strich sich eine lockige Strähne aus der Stirn. »Derzeit übernimmt Fran das Handlesen. Sie und Benedikt … ähm … unterstützen uns momentan auf dem Jahrmarkt. Benedikt ist übrigens mein Bruder«, fügte sie erklärend hinzu und wandte sich dann an Gretl. »Kannst du dich noch an ihn erinnern? Du hast ihn damals in den Neunzigern in Wien kennengelernt.«
Gretl strahlte über das ganze Gesicht, und eine leichte Röte stahl sich auf ihre Wangen. »Wie könnte ich ihn vergessen? Er war einfach umwerfend. Er ist auch hier?«
»Ja, er und Francesca. Sie haben vor einigen Monaten geheiratet. Du wirst Fran mögen – sie ist sehr nett, und sie vergöttert Benedikt, obwohl sie ihn gnadenlos damit aufzieht, dass die Damenwelt bei seinem Anblick gern ins Schwärmen gerät.«
»Wow, dann muss er sich ja gut gehalten haben. Ihr habt wohl wirklich tolle Gene«, bemerkte ich, bevor ich die Unterhaltung wieder auf das ursprüngliche Thema lenkte. »Also, ich weiß, dass du heute Abend beschäftigt bist, aber falls du morgen Zeit hättest, könnte ich dich vielleicht dann fotografieren.«
»Stimmt, Benedikt ist ausgesprochen attraktiv«, erwiderte Imogen und ignorierte meinen Versuch, das Thema zu wechseln. »Das hat er von unserem Vater.«
Ihre Anspannung nahm spürbar zu, und mir fiel auf, wie sie mir über die Schulter sah und dabei ganz kurz so etwas wie Schmerz in ihrem Gesicht aufflackerte.
»Dann muss euer Vater ein wahrhaft attraktiver Mann gewesen sein«, meinte Gretl und sah dabei so verträumt aus, dass ich beinahe losgekichert hätte. »Soweit ich mich erinnere, hast du ihn noch nie zuvor erwähnt.«
»Er starb, als ich zweiundzwanzig war«, sagte Imogen schnell. Sie hielt den Blick auf die Runensteine gerichtet und streichelte sie sacht mit ihren langen Fingern. »Er wurde von seinen beiden Halbbrüdern umgebracht.«
»Oh, wie schrecklich!«, sagten Gretl und ich gleichzeitig.
»Es war eine Tragödie. Er hatte unseren Familienwohnsitz geerbt, und die beiden haben ihm das wohl missgönnt. Darum haben sie ihn in einer Sommernacht in den Wald gelockt und dann dort umgebracht.« Sie verstummte, offenbar unschlüssig, ob sie weitererzählen sollte. »Eigentlich bin ich genau aus diesem Grunde hier. Sein … Tod … jährt sich in einigen Tagen. Ich komme so oft ich kann hierher zurück, um mich an die schönen gemeinsamen Zeiten zu erinnern.«
»Das tut mir aufrichtig leid«, beteuerte ich, und Gretl murmelte ebenfalls eine Beileidsbekundung. »Ich hätte nicht von Genen anfangen sollen.«
Imogen schniefte ein paar ungeweinte Tränen fort. »Nein, nein, es macht mir nichts aus, von Papa zu sprechen. Bis zu jener schrecklichen Nacht war er ein guter Mann und wundervoller Vater, und ich habe ihn sehr geliebt.«
»Du musst ihn furchtbar vermissen. Ich nehme doch an, sie haben die Mörder gefasst.«
»Leider sind sie untergetaucht, ehe sie zur Rechenschaft gezogen werden konnten.«
»Das ist sehr traurig. Aber ich bin sicher, wo auch immer dein Vater jetzt ist, er weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.«
Sie sah mich mit überrascht aufgerissenen Augen an. » Wo auch immer er ist?«
Ich deutete zum Himmel hinauf. »Na du weißt schon, er ist immer bei dir.« Da ich nicht wissen konnte, welcher Religion, wenn überhaupt, sie angehörte, versuchte ich, vage zu bleiben. Schließlich wollte ich sie nur ein bisschen trösten.
Imogen zuckte leicht mit den Schultern und richtete den Blick wieder auf die Steine. »Ach so. Das ist er mit Sicherheit. Anfangs hatte ich noch die Hoffnung, dass Ben und ich Nikolas Brüder aufspüren würden, aber das ist uns leider nicht gelungen.«
»Nikola
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