Keine Zeit für Vampire
ist euer Vater?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. Zwar wollte ich auf keinen Fall aufdringlich erscheinen, aber meine Neugier war größer als meine Zurückhaltung, und außerdem schien es ihr ja nichts auszumachen, von ihm zu erzählen, solange die Umstände seines Todes nicht zur Sprache kamen.
»Richtig.« Sie legte den Stein, den sie die ganze Zeit über gestreichelt hatte, zurück, und als sie uns wieder ansah, ließ ein leises Lächeln ihre blauen Augen leuchten. »Nikola Czerny, der fünfte Baron von Shey.«
Ich sah sie irritiert an. »Dein Vater war ein Baron? Ein waschechter Baron? Und was bist du dann?«
Imogen lachte laut auf und tätschelte kurz meinen Arm. »Ich bin eine Frau.«
»Oh, tut mir leid.« Ich entschuldigte mich erneut, und aus Scham über mein dummes Gerede wurde ich sogar ein bisschen rot. »Ich bin doch ein Idiot – bitte verzeih mir. Aber ich habe eben noch nie jemanden von adliger Abstammung getroffen.«
»Die meisten österreichischen Adeligen haben schon vor über hundert Jahren all ihre Privilegien eingebüßt«, erklärte Gretl nachsichtig und drückte leicht meinen Arm. »Allerdings wusste auch ich bisher nicht, dass Imogens Vater ein Baron war. Hat Ben den Titel geerbt?«
»Nein, das hat er nicht«, entgegnete Imogen, und ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich kurz, bevor sie uns erneut strahlend anlächelte. »Das ist alles schon so lange her, und wir haben uns doch viel schönere Dinge zu erzählen, oder?«
Ein nicht gerade subtiler Hinweis darauf, dass das Thema für sie beendet war.
»Ganz sicher«, pflichtete Gretl ihr beschwichtigend bei und verabredete sich sogleich mit Imogen für den darauffolgenden Tag zu Kaffee und Kuchen.
»Falls du beschäftigt bist, möchte ich dich auf keinen Fall belästigen«, erklärte ich. Ich war mir nicht sicher, ob sie nur aus Höflichkeit zugestimmt hatte, sich von mir fotografieren zu lassen, oder tatsächliches Interesse an den Bildern hatte. »Wenn du keine Zeit hast, macht das auch nichts. Ansonsten finden wir hier in der näheren Umgebung sicherlich eine schöne Kulisse für die Bilder.«
Imogen sah auf und lächelte nun ganz aufrichtig. »Nein, ich bin nicht zu beschäftigt. Ich wäre sehr gern dein Fotomodell.«
»Oh, ihr müsst unbedingt zur Andrasburg fahren!«, meinte Gretl und ergriff meinen Arm. »Das wäre ein wunderschöner Hintergrund …«
»Nein«, widersprach Imogen hastig, und ihre Miene erstarrte zu Eis. Der plötzliche Stimmungsumschwung irritierte mich. Dann entspannte sie sich unvermittelt und rang sich ein Lachen ab. »Entschuldigt bitte. Ihr müsst mich für ziemlich seltsam halten, aber mit der Andrasburg verbinde ich … unangenehme Erinnerungen. Ich möchte lieber nicht mehr dorthin.«
»Dann kommt sie selbstverständlich nicht als Kulisse infrage«, versicherte ich ihr. Die heftige Reaktion auf die Burgruine hatte meine Neugier geweckt. Vielleicht fürchtete sie sich dort. Gretl hatte mir erzählt, dass die Ruine ein unwirtlicher Ort war, der von den Einheimischen gemieden wurde. »Hier in der Umgebung gibt es ja noch jede Menge andere Plätze, wo wir hinfahren können.«
»Wie wäre es mit den Rosengärten?«, schlug Gretl vor. »Dem Rathaus? Oder der Kirche? Die ist ziemlich alt.«
»Hm …« Ich überlegte angestrengt. »Also ehrlich gesagt habe ich mir als Kulisse für Imogens Fotos etwas anderes vorgestellt. Etwas, das einen Kontrast zu ihrer Blässe und Zerbrechlichkeit hergibt.«
Imogen lachte, und ihre Miene verwandelte sich schon wieder in Windeseile. »Das war bestimmt als Kompliment gemeint, aber ich kann dir versichern, dass ich alles andere als zerbrechlich bin. Blass schon – das habe ich von meiner Mutter –, aber zerbrechlich? Absolut nicht.«
»Der äußere Anschein trügt oft«, gab ich zu. »Ich würde dich am liebsten an einem düsteren, unheimlichen Ort ablichten. Das würde den Fotos bestimmt eine großartige Tiefe verleihen.«
»Ganz wie du möchtest. Du bist schließlich die Expertin«, erklärte Imogen und zuckte wieder leicht mit den Schultern.
»Eine Expertin bin ich sicherlich nicht, aber ich sehe dich …« Ich kniff die Augen zusammen und stellte mir Imogen vor der Burgruine vor. Sie wäre als Kulisse ideal gewesen. Aber es gab ja noch andere potenzielle Schauplätze. »Ach ja! Gretl hat mit von dem Wald ganz in der Nähe erzählt, in dem es spuken soll …«
»Nein!« Imogen kreischte beinahe und zog die Aufmerksamkeit der Jahrmarktsbesucher, die an
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