Keine zweite Chance
und ich versuchten, am Hotelbüfett zu frühstücken. Wir bekamen nichts hinunter. Unser Mietwagen stand bereit. Lenny hatte sich an der Rezeption den Weg nach Hanley Hills beschreiben lassen.
Ich weiß nicht mehr, was wir auf der Fahrt sahen. Abgesehen vom fernen St. Louis Arch, stach mir nichts ins Auge. Dank der ewigen Einkaufszentren an den Zufahrtsstraßen sieht es in den Vereinigten Staaten überall gleich aus. Natürlich kann man darüber schimpfen – was ich auch gelegentlich tue –, aber vielleicht liegt der Grund einfach darin, dass uns meistens das am besten gefällt, was wir schon kennen. Wir behaupten, wir ständen Veränderungen aufgeschlossen gegenüber. Aber im Endeffekt zieht uns vor allem das Altbekannte an, besonders in diesen unruhigen Zeiten.
Als wir den Stadtrand von Hanley Hills erreichten, spürte ich ein Kribbeln in den Beinen. »Was machen wir hier, Lenny?«
Er wusste keine Antwort.
»Soll ich einfach an die Tür klopfen und sagen: Entschuldigen Sie, aber ich glaube, das ist meine Tochter? «
»Wir könnten die Polizei rufen«, sagte er. »Und die das erledigen lassen.«
Doch ich wusste nicht, was dabei herauskommen würde. Wir waren so nah dran. Ich bat ihn, weiterzufahren. Wir bogen nach rechts in die Marsh Lane. Ich zitterte. Lenny sah mich aufmunternd an, aber auch sein Gesicht war blass. Die Häuser und Grundstücke waren bescheidener, als ich erwartet hatte. Ich war
davon ausgegangen, dass Bacards Mandanten wohlhabend sind. Dieses Paar war es offenbar nicht.
»Abe Tansmore ist Lehrer«, sagte Lenny, der wie üblich meine Gedanken gelesen hatte. »Sechste Klasse. Lorraine Tansmore arbeitet drei Tage die Woche in einer Kindertagesstätte. Beide sind neununddreißig. Sie sind seit siebzehn Jahren verheiratet.«
Vor uns sah ich ein Haus mit einem Kirschholzschild, auf dem 26 – THE TANSMORES stand. Es war ein kleiner Flachbau, eine Art winziger Bungalow. Die anderen Häuser in der Straße wirkten karg. Dieses nicht. Die Farbe strahlte wie ein Lächeln. Viele bunte Flecken zierten den Garten, Blumen und Sträucher, alle ordentlich angelegt und perfekt beschnitten. Auf der Fußmatte stand groß Welcome . Ein niedriger Palisadenzaun umgab den Vorgarten. In der Einfahrt parkte ein Kombi, ein alter Volvo. Dort standen auch ein Bobby-Car und ein knallbuntes Dreirad.
Im Garten war eine Frau.
Lenny parkte vor einem leeren Grundstück. Ich merkte es kaum. Die Frau kniete in einem Blumenbeet. Sie grub mit einer kleinen Schaufel. Ihre Haare waren mit einem roten Band nach hinten gebunden. Immer, wenn sie ein paar Schaufeln herausgeholt hatte, wischte sie sich mit dem Ärmel über die Stirn.
»Du hast doch gesagt, sie arbeitet in einer Kindertagesstätte?«
»Drei Tage die Woche. Sie nimmt ihre Tochter mit.«
»Wie nennen sie die Tochter?«
»Natasha.«
Ich nickte. Ich weiß nicht, warum. Wir warteten. Die Frau, diese Lorraine, arbeitete schwer, doch es machte ihr offensichtlich Spaß. Sie strahlte Ruhe aus. Ich öffnete das Autofenster. Ich hörte, wie sie vor sich hin pfiff. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Eine Nachbarin kam vorbei. Lorraine stand auf und grüßte sie. Die Nachbarin zeigte auf den Garten. Lorraine lächelte. Sie war keine Schönheit, hatte aber ein tolles Lächeln. Die Nachbarin
ging weiter. Lorraine winkte ihr zu und machte sich wieder an ihre Arbeit.
Die Haustür wurde geöffnet.
Ich sah Abe. Er war groß, schlank und drahtig, mit einem leichten Glatzenansatz. Er trug einen gepflegten Bart. Lorraine richtete sich auf und sah ihn an. Sie winkte ihm kurz zu.
Und dann kam Tara in den Garten gelaufen.
Die Welt schien stillzustehen. Mir stockte das Herz. Lenny erstarrte neben mir und murmelte: »Mein Gott.«
Ich hatte während der letzten achtzehn Monate nie richtig daran geglaubt, dass es diesen Augenblick jemals geben würde. Stattdessen hatte ich mich selbst davon zu überzeugen versucht – und mir vielleicht auch vorgemacht –, dass Tara doch noch irgendwie am Leben sein könnte und es ihr gut ginge. Aber mein Unterbewusstsein war immer von einer Selbsttäuschung ausgegangen. Es hatte mir zugezwinkert. Es hatte mir im Schlaf Stöße versetzt. Es hatte mir die offenkundige Wahrheit zugeflüstert: Ich würde meine Tochter nie wiedersehen.
Aber das da war meine Tochter. Sie lebte.
Ich war überrascht, wie wenig Tara sich verändert hatte. Natürlich war sie gewachsen. Sie konnte stehen. Sie konnte sogar, wie ich jetzt sah, rennen. Aber ihr
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