Keiner wird weinen
Man durfte auf keinen Fall Angst zeigen oder ausrasten. Offenbar verhielt sie sich richtig, denn die
anderen ließen sie bald in Ruhe. Eine Neue traf ein, und die allgemeine Aufmerksamkeit wandte sich ihr zu.
Inna hatte das Gefühl, ganz und gar durchtränkt zu sein von Gestank. Sie hatte das Bedürfnis, sich die Zähne zu putzen, sich
die Haare zu waschen, sie sehnte sich nach Hause, nach ihrem sauberen Bad. Nachts stellte sie sich vor, wie sie ins heiße
Badewasser mit duftendem Schaum stieg und sich anschließend in ein weiches, flauschiges Handtuch hüllte, um dann sofort verzweifelt
zu denken: Sie werden mich verurteilen und ins Lager stecken, ich werde viele Jahre kein heißes Schaumbad zu sehen kriegen.
Und hinterher bin ich alt, faltig und zahnlos und brauche sowieso nichts mehr.
Inna wußte bereits, daß auf dem Griff des Küchenmessers ihre Fingerabdrücke festgestellt worden waren. Das hatte ihr Untersuchungsführer
Gusko mit tiefer Befriedigung mitgeteilt. Auf ihre Klage, daß ihr Hals schmerze, und ihre Bitte um eine nochmalige ärztliche
Untersuchung hatte er nur verächtlich gelacht.
»Wissen Sie was, Verdächtige, hör endlich auf, dich dumm zu stellen. Wollen wir nun gestehen oder nicht?«
Er redete sie mal mit »Sie«, mal mit »du« an, nannte sie nicht einmal beim Familiennamen, sondern nur »Verdächtige«. Und verlangte
nur eines: ein Geständnis. Inna begriff:Sie wollten sie zermürben. Sie brauchten ein Geständnis von ihr, dann müßten sie sich nicht weiter abmühen und den wirklichen
Mörder suchen.
Sie hatte schon einiges über die Miliz und die Staatsanwaltschaft gehört, meist Schlechtes. Vor kurzem hatte eine Menschenrechtlerin
im Fernsehen erzählt, bevor der ukrainische Serienmörder Michassewitsch gefaßt worden sei, hätten vierzehn Personen in diesem
Fall Geständnisse abgelegt. Vierzehn Unschuldige, kräftige junge Männer hatten bereitwillig Morde gestanden. Wie mußten sie
die bearbeitet haben!
Sie entsann sich, wie sie vor kurzem einmal auf einem Metrobahnsteig auf einer Bank gesessen und auf eine Freundin gewartet
hatte. Neben ihr saß eine junge Mutter mit einem etwa dreijährigen Kind. Der Junge hatte gequengelt, die arme Mama hatte versucht,
ihn zu beruhigen, er aber krakeelte immer weiter, verlangte ein Eis, sofort. Er wollte nicht einsehen, daß es auf dem Bahnsteig
kein Eis gab. Da kam ein Milizionär vorbei, ein sympathischer junger Mann mit Schnurrbart. Die Mama sagte: »Wenn du weiter
so quengelst, dann nimmt der Milizionär dich mit.«
Der Milizionär trat zu den beiden, ging in die Hocke, strich dem Kind über den Kopf und sagte: »Hab keine Angst, mein Kleiner.
Keiner nimmt dich mit. Du mußt keine Angst haben vor einem Milizionär.«
Dann wandte er sich an die Mutter: »Was machen Sie bloß? Warum jagen Sie Ihrem Kind Angst vor uns ein? Sind wir denn wilde
Tiere?«
Inna hatte damals gedacht: Stimmt, es ist wirklich nicht schön, einem Kind Angst vor der Miliz zu machen.
Doch nun stellte sich heraus, daß sie tatsächlich Tiere waren. Verhafteten einfach eine Unschuldige, sperrten sie mit Diebinnen
und Prostituierten zusammen.
Erst im Morgengrauen schlief sie ein und wurde gleich wieder geweckt.
»Selinskaja, zur Vernehmung!«
Er saß nicht allein in seinem Büro. Am Fenster stand ein Mann in Milizuniform und rauchte. Inna verspürte auf einmal den dringenden
Wunsch nach einer Zigarette, wagte jedoch nicht, darum zu bitten. Die trüben, verquollenen Augen des Untersuchungsführers
jagten ihr kalte Schauer über den Rücken.
Der Mann am Fenster drehte sich um. Na so was, es war der Milizionär aus der Metro! Noch ehe sie begriff, was auf einmal über
sie gekommen war, sagte sie leise und vernehmlich: »Ihr seid doch Tiere, das sehe ich jetzt. Es ist schon richtig, wenn man
den Kindern Angst vor euch macht.«
»Unterlassen Sie das, Verdächtige!« Gusko hieb mit der Faust auf den Tisch. »Auf Beleidigung einer Amtsperson steht …«
»Schon gut.« Der Schnauzbart winkte ab. »Wie geht es Ihnen, Inna?«
»Ausgezeichnet! Ausgezeichnet geht es mir hier in der U-Haft!« knurrte Inna.
»Was macht Ihr Hals?«
Inna stockte für einen Moment das Herz. Wollten sie etwa doch den richtigen Mörder suchen?
»Er tut weh«, sagte sie ruhig, »die ganze Zeit. Ich habe gebeten, mich einem Arzt vorzustellen. Aber ich kriege nur zu hören,
ich solle nicht so dumm tun und endlich gestehen. Ich werde nichts gestehen,
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