Keiner wird weinen
schlechtes Personengedächtnis,
aber wenn er sich ein Gesicht merkt und wiedererkennt, dann ist es für ihn wichtig. Doch Fjodor hat das verneint. Ganz kategorisch.
Sie haben die Wohnung zusammen verlassen. Ich mußte einfach allein sein, deshalb habe ich sie gebeten zu gehen. Und genau
in der Nacht wurde Stas von seiner Frau umgebracht. Wissen Sie, er hat laufend geheiratet und sich scheiden lassen, das war
für ihn so eine Art Sport. Aber ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, daß er eine verrückte Alkoholikerin geheiratet
hat, die ihn dann ersticht.«
Sie saßen bereits am Tisch. Sie waren die einzigen Gäste in dem kleinen Kellerlokal.
»Was möchten Sie bestellen?« fragte der hochgewachsene Kellner, der eine Lederweste und eine alberne knielange Lederhose trug.
Anton sah Vera fragend an. Sie hatte die Speisekarte noch nicht einmal aufgeschlagen.
»Wissen Sie, ich glaube, ich habe gar keinen Hunger«, gestand sie schuldbewußt. »Irgend etwas Leichtes vielleicht. Und einen
Kaffee, möglichst stark.«
»Gut, dann bringen Sie uns bitte zwei Krabbencocktails, zwei Pilzragout, einen Espresso, einen Orangensaft … Vera, ich muß
fahren, ich darf nichts trinken, aber Sie könnten einen Schluck gebrauchen.«
»Ja, vielleicht.«
Anton bestellte für sie fünfzig Gramm Kognak. Als der Kellner gegangen war, sagte Vera ganz leise: »Ich möchte so ungern schlecht
über ihn denken. Und eigentlich hatte ich dazu bis heute morgen auch keine ernsthafte Veranlassung.«
»Sie haben erst heute morgen angefangen, ihn zu verdächtigen?« fragte Anton rasch.
»Nein, schon früher, das ist mir jetzt bewußt. Von Anfang an. Aber es ist doch lächerlich, jemandem nur deshalb böse Absichten
zu unterstellen, weil er so überaus gut ist. Nein, ich glaube nicht, daß er Stas getötet hat. Das ist Unsinn. Aus Eifersucht
etwa? Aber als Sonja vorhin am Telefon gesagt hat: Keine Angst, er ist dir nicht gefolgt, da wurde mir auf einmal klar, daß
ich das durchaus für möglich gehalten habe. Schließlich hat er mich gedrängt, mich mit Ihnen zu treffen. Er will irgend etwas
von Ihnen. Er wollte mitkommen zu der Verabredung. Vielleicht ging es ihm ja von Anfang an gar nicht um mich, sondern um Sie.
Um Sie und Ihre Faxe.«
»Ich muß ihn mir ansehen«, sagte Anton nachdenklich.
»Sind Sie sicher, daß er Sie nicht erkennt? Ihren Namen kennt er schließlich auch.«
»Nein, da bin ich nicht sicher. Ich muß mir etwas einfallen lassen. Eine Art Maskerade. Könnten Sie nicht einen Klempner bestellen
oder einen Elektriker?«
»Nein« – Vera lachte resigniert –, »er hat eigenhändig alles im Haus repariert. Bei mir ist alles intakt, bis zum letzten
Stöpsel.«
»Tja – der absolute Traummann.« Anton lächelte. »Wollten Sie ihn im Ernst heiraten?«
»Ach, nein.« Vera seufzte. »Nicht im Ernst. Nur, um Selinski zu ärgern.«
»Ich muß ihn mir ansehen«, wiederholte Anton langsam, »das Ganze gefällt mir nicht …«
»Der Computer«, flüsterte Vera, »von Computern versteht er nichts.«
»Sie sind ein kluges Mädchen, Vera. Ich komme Ihren Computer reparieren.«
Inna Selinskaja tat der Hals derartig weh, daß sie nicht schlafen konnte. Daran waren natürlich nicht nur die Schmerzen schuld,
sondern auch die nervliche Anspannung, die panische, hoffnungslose Angst.
Ihr Vater mußte bald eintreffen, er würde einen guten Anwalt engagieren, aber wenn sie ihr den Mord unbedingt anhängen wollten,
weil es für sie am bequemsten war, dann könnte ein Anwalt auch nichts ausrichten. Papas Beziehungen waren alle weit weg, in
Kriwoi Rog, in der Ukraine. Das war jetzt Ausland. In Moskau hatte er niemanden. Und ohne Beziehungen konnte man nicht einmal
jemanden schmieren …
Vielleicht hatte sie irgend jemand benutzt, auf eine ganz raffinierte Weise? Aber wer hätte etwas davon? Höchstens Stas selbst,
um sie loszuwerden. Aber das war Schwachsinn. Er konnte sich nicht selbst ein Messer in den Rücken gejagthaben. Und sonst hatte niemand etwas davon. Wer war sie schon, das jemand ihretwegen einen Mord beginge?
In Innas Zelle saßen außer ihr noch weitere achtzehn Frauen: Diebinnen, Prostituierte, Obdachlose, Zigeunerinnen – alles bunt
durcheinandergewürfelt.
Als Inna in die Zelle kam, gebärdeten sich die anderen wie von der Leine gelassen, sie stichelten und verhöhnten sie. Und
die Aufseherin, eine eiserne Matrone, wies sie nicht einmal zurecht.
Aus Filmen wußte Inna:
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