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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Fremden
     irgendwo zu sitzen, das wäre möglicherweise besser, als allein durch die Straßen zu laufen.
    »Haben Sie einen Telefonchip?« fragte sie schließlich. »Ich muß mal zu Hause anrufen.«
    Sonja nahm ab.
    »Er ist gegangen, kurz nach dir. Aber er ist dir nicht gefolgt, da bin ich sicher. Ich hab gesagt, du triffst dich mit jemandem
     von Greenpeace in Sokolniki und fährst mit dem Taxi hin. Wo bist du denn? Hast du dich mit Kurbatow getroffen?«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Erzähl ich dir, wenn ich zurück bin. Kannst du ein paar Stunden allein bleiben?«
    »Klar, ich lese gerade Harper Lee, ›Wer die Nachtigall stört‹. Was ist eigentlich passiert? Was war das vorhin für ein Anruf
     wegen Stas?«
    »Stas ist tot. Vorgestern nacht.«
    »O Gott, Vera … Nein, nein, ich stelle dir keine Fragen, keine Angst, ich verstehe schon. Bist du noch bei Kurbatow?«
    »Ja.«
    »Sieht er aus wie ein Bandit?«
    »Überhaupt nicht. Er hat auch Kummer, sein Bruder wurde ermordet …«
    »Mach dir keine Sorgen, fahr mit ihm irgendwohin, du brauchst ein bißchen Ablenkung.«
    Mein Gott, warum versteht das Kind mich besser als jeder Erwachsene? dachte Vera. Wie viele Fragen Mama mir gestellt hätte!
     Von Fjodor ganz zu schweigen. Und Stas?
    Sie ertappte sich dabei, daß sie an Stas dachte, als lebte er noch. Sie würde lange brauchen, bis sie begriffen hatte, daß
     er nicht mehr war.
    »Und?« erkundigte sich Anton, als sie wieder im Auto saß.
    »Alles in Ordnung. Wir können fahren. Wissen Sie schon, wohin?«
    »Ich weiß ein schönes Lokal ganz in der Nähe. Dort ist es ruhig und selten voll.«
    »So, wie ich aussehe, in ein Restaurant? Bis dahin bin ich bestimmt nicht wieder trocken«, sagte Vera.
    »Ich mache die Heizung an. Hauptsache, Sie holen sich keine Erkältung.«
    Hauptsache, ich fange nicht an zu heulen, dachte Vera, und prompt fing sie an zu weinen. Die Tränen flossen von ganz allein,
     sie konnte nichts dagegen tun.
    Anton stellte den Motor ab und wandte sich zu ihr.
    »Was haben Sie, Vera?«
    »Sie haben Ihren Bruder verloren«, sagte sie unter Tränen, »und ich … Der Mann, der mir am allernächsten … Der Mann, denn
     ich fünfzehn Jahre geliebt habe, ist umgekommen. Auf eine so dumme, scheußliche Weise … Seine betrunkene Frau hat ihn wegen
     der Wohnung erstochen. Entschuldigen Sie bitte, ich sollte wohl besser nirgendwohin fahren. Ich dachte, ich könnte mich beherrschen,
     aber es geht nicht.«
    »Sie müssen sich nicht beherrschen«, sagte Anton und strich ihr sanft über das nasse Haar. »Weinen Sie nur, genieren Sie sich
     nicht. Wissen Sie, meine Mutter, als sie von Denis’ Tod erfuhr, da konnte sie überhaupt nicht weinen. Sie kann es bis heute
     nicht. Dadurch geht es ihr noch schlechter.«
    »Fünfzehn Jahre«, schluchzte Vera, »und es war alles so kompliziert! Vor kurzem hat mir ein junger Mann einen Heiratsantrag
     gemacht, und ich habe eingewilligt. Oh, verzeihen Sie, das interessiert Sie gar nicht. Sie haben Ihre eigenen Probleme.«
    »Erzählen Sie nur, Vera, Sie müssen sich doch aussprechen.«
    Vera wischte sich die Tränen ab und schaute Anton lange und aufmerksam an.
    »Sie sind ein guter Mensch, ich danke Ihnen. Ich muß Sie warnen. Ich glaube, das ist wichtig. Über Ihre ehemaligeFirma geht das Gerücht um, sie hätte mit lebender Ware gehandelt, sie hätte Mädchen ins Ausland geschleust und sie an Bordelle
     verkauft.«
    »Wer hat Ihnen denn den Blödsinn erzählt?«
    »Ein Bekannter. Er ist sehr impulsiv und argwöhnisch, seine jüngere Schwester ist in eine schlimme Geschichte reingeraten,
     wissen Sie, es gibt doch so viele Anzeigen: Bieten jungen Mädchen Arbeit im Ausland. Jedenfalls, nun sucht mein Bekannter
     nach Schuldigen. Er ist überzeugt, die Firma Star-Service hätte seine Schwester verkauft. Er kennt Ihren Namen.«
    »In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesem Mann? Kennen Sie ihn schon lange?« fragte Anton leise.
    »Er arbeitet beim Wachschutz irgendeiner Firma. Wo genau, weiß ich nicht. Wir haben uns erst vor kurzem zufällig kennengelernt.«
    »Wie denn?«
    »Ich habe einen Hund, einen Irischen Setter. Er war weggelaufen«, begann Vera.
    Sie spürte: Sie mußte sich wirklich einmal aussprechen, die ganze Geschichte einem Außenstehenden erzählen. Außer mit Sonja
     konnte sie mit niemandem darüber reden. Und Sonja war trotz allem noch ein Kind.
    »Stas hat ihn gefragt, ob sie sich vielleicht schon mal irgendwo begegnet sind. Stas hat eigentlich ein

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