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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Vera für eine Weile die Augen. Sie hatte diese Nacht kaum geschlafen. Sie
     hatte versucht, die bedrückende, quälende Angst mit mechanischer Übersetzungsarbeit zu betäuben. Aber die einfachsten Worte
     verloren ihren Sinn, sie starrte stumpfsinnig auf den Monitor und dachte nur an eines: Warum hatte sie, Vera Saltykowa, nicht
     mehr jung und keineswegs dumm, sich als Köder, als Lockvogel oder was auch immer benutzen lassen?
    Sie war belogen worden, dreist und hemmungslos. Dabei hatte sie insgeheim etwas gespürt, sich jedoch eingeredet: Nein, er
     ist gut, er hatte eben eine schwere Kindheit …
    Vera rechtfertigte andere stets mühelos, nun aber mußte sie sich selbst rechtfertigen. Und das konnte sie nicht. Klar, das
     banale, ewige Bedürfnis der Frau, geliebt zu werden – so alt wie die Welt. Klar, die komplizierte Affäre mit Stas, die Einsamkeit,
     die sie satt hatte. Das alles war verständlich. Aber am Ende hatte sie sich in ein fremdes, schmutziges, undurchschaubares
     Spiel hineinziehen lassen. Und nicht nur sich, sondern auch ihre Mutter, Sonja, Stas …
    Je mehr sie darüber nachdachte, in der schlaflosen Nacht und auch jetzt am Morgen, um so weniger glaubte sie daran, daß Stas
     von seiner Frau umgebracht worden war. Sie mußte Sawjalow anrufen, gleich heute. Sich die Nummer des zuständigen Ermittlers
     geben lassen. Stas hatte Fjodor schon mal irgendwo gesehen. Er hatte gesagt: Es ist wichtig, ich muß mich unbedingt daran
     erinnern. Fjodor war in dem Moment ins Zimmer gekommen, als Stas die simple Fragestellte: Wie habt ihr euch denn kennengelernt? Fjodor kann durchaus vor der Tür gestanden und ihr ganzes Gespräch gehört haben.
     Auch wenn er selbst sich vielleicht nicht erinnerte, wo sie sich schon einmal begegnet waren, wollte er natürlich nicht, daß
     es Stas wieder einfiel. Sie mußte mit dem Staatsanwalt reden und mit der Miliz. Es reichte …
    »Vera, möchten Sie Tee oder Kaffee?« Anton schaute herein.
    Vera zuckte zusammen und öffnete die Augen.
    »Kaffee bitte. Möglichst stark.«
    Anton nickte und ging wieder in die Küche.
    »Übrigens eine entzückende junge Dame«, sagte Katz, während er den Käse mit einem speziellen Messer in hauchdünne, durchsichtige
     Scheiben schnitt. »Ist das mit euch beiden was Ernstes, oder … Na ja, wie immer?«
    Anton sah den Alten erstaunt an.
    »Ich habe nichts mit ihr. Wir sind wegen eines Falls hier. Wir sind beide in dieselbe üble Geschichte reingeraten. Dadurch
     haben wir uns erst kennengelernt.«
    »Na also, ich hab ja immer gesagt, jedes Übel hat auch seine guten Seiten.« Der Alte lachte. »Hol mal den Schinken aus dem
     Kühlschrank. Nein, schneiden tue ich ihn selbst. Kümmere dich schon mal um das Grünzeug. Ja, die junge Dame ist wirklich eine
     Pracht. Sie hat so was … Weißt du, als sie reinkam, da mußte ich sofort an die Bilder der alten Meister denken. Die alten
     Holländer, Renaissance …«
    Endlich war das Frühstück fertig. Katz legte ein weißes Tischtuch auf und deckte gemächlich, fachmännisch den Tisch.
    »Ich weiß, ihr beiden jungen Leute habt ernste Probleme«, sagte er, als sie sich an den Tisch setzten. »Aber daran solltet
     ihr beim Essen nicht denken. Das verdirbt nur den Appetit, und die Probleme werden davon nicht weniger. Vera, diese Kaffeetasse
     ist hundert Jahre alt.« Er stellte eine beinahe durchsichtige Porzellantasse vor sie hin. »Das Servicehat mein Großvater siebenundneunzig aus China mitgebracht. Achtzehnhundertsiebenundneunzig. Für die Rückreise nach Moskau
     brauchte er fast einen Monat. In Wladiwostok wurde ihm sämtliches Geld gestohlen, er hat eine Menge Abenteuer erlebt. Von
     dem Service waren in Moskau bloß noch Scherben übrig. Nur eine einzige Tasse war unversehrt. Und diese Tasse hat drei Kriege,
     die Revolution und noch manches andere überlebt. Sie ist heil geblieben, obwohl sie so zerbrechlich ist, fast durchsichtig.
     Trinken Sie Ihren Kaffee daraus, Vera. Ich bin nicht abergläubisch, aber diese Tasse bringt Glück.«
    »Ich traue mich gar nicht, sie in die Hand zu nehmen«, sagte Vera lächelnd.
    »Trauen Sie sich ruhig. Trinken Sie Ihren Kaffee. Stärken Sie sich!«
    Nach dem Frühstück rauchten sie, und Anton holte das Foto heraus. Der Alte nahm es vorsichtig, mit zwei Fingern, hielt es
     sich dicht vor die Augen und betrachtete es lange durch seine Brille. Dann stand er abrupt auf und ging wortlos hinüber ins
     andere Zimmer. Nach fünf Minuten kam er zurück,

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