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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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die Angst,
     die er ausgestanden hatte …Vielleicht hatte ihm ja gar keiner durch das Straßenbahnfenster seinen eiskalten Blick in den Hinterkopf gebohrt – und alles
     war nur Einbildung. Vielleicht hatte er den Killer bereits vor Stunden abgehängt, auf dem Hauptbahnhof? Oder doch nicht?
    Denis verließ den Hof und lief rasch auf der Schattenseite der schmalen Straße entlang. Er hatte Hunger. Das war ein gutes
     Zeichen – also war die Gefahr wirklich vorbei. Von Kindheit an spürte er drohende Gefahr zuerst im Bauch.
     
    Anton Kurbatow drückte auf »Gespräch unterbrechen« und wählte sofort erneut die Prager Telefonnummer. Ein Freizeichen, sonst
     nichts.
    »Verdammt, wo treibst du dich bloß rum, Denis?« sagte er in den tutenden Hörer, wartete noch eine Weile, blätterte in seinem
     dicken Kalender und zündete sich eine Zigarette an.
    Er saß nackt in einem klobigen Ledersessel. Draußen vorm Fenster dröhnte der morgendliche Kutusow-Prospekt. Die Moskauer Maisonne
     drang durch die schweren Seidenvorhänge.
    »Ich hab dich doch gebeten, im Zimmer nicht zu rauchen!« Auf der Schwelle stand eine hochgewachsene dünne Frau um die Vierzig
     in einem durchsichtigen Negligé. »Und überhaupt, hör auf, ständig Prag anzurufen, sonst hab ich nachher eine Rechnung von
     hundert Dollar am Hals.«
    »Entschuldige«, brummte Anton, drückte aber dennoch die Zigarette nicht aus und wählte erneut eine Prager Nummer. Diesmal
     wurde sofort abgehoben.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Anton auf tschechisch, »in Ihrem Hotel wohnt Herr Denis Kurbatow, Zimmer neununddreißig. Ja, ich
     weiß, wie ich direkt im Zimmer anrufen kann. Aber dort geht schon den zweiten Tag niemand ran. Ja, danke. Wenn Sie erlauben,
     rufe ich in einer halben Stunde wieder an.«
    Ein Ascheklümpchen fiel auf den teuren flauschigen Teppich. Die Frau riß ihm die Zigarette aus der Hand.
    »Wowtschik kommt heute zurück, und du saust hier rum und telefonierst auch noch dauernd auf meine Kosten ins Ausland!«
    »Reg dich bitte nicht auf, Galja!« Anton sah rasch auf die Uhr, sprang mit einem geschmeidigen, katzenhaften Satz aus dem
     Sessel, warf Galja auf den Teppich und öffnete flink die Perlmuttknöpfe ihres Negligés.
    »Du meinst, weil du so ein toller Lover bist, kannst du dir alles erlauben?« Galja gab ihm einen spielerischen Klaps auf den
     Po. »Dein Brüderchen wird sich wieder anfinden, wo soll er schon sein«, hauchte sie mit geschlossenen Augen.
    Genau eine halbe Stunde später wählte Anton erneut die Prager Nummer. Galja machte ein gespielt wütendes Gesicht und ging
     ins Bad.
    »Er hat seit zwei Tagen nicht im Hotel übernachtet? Ist sich das Zimmermädchen da ganz sicher? Bis wann hat er das Zimmer
     bezahlt? Also noch zwei Tage? Vielen Dank. Wenn er auftaucht, richten Sie ihm bitte aus, daß sein Bruder aus Moskau angerufen
     hat. Telefon- und Faxnummer der Firma haben sich geändert. Ich rufe ihn selbst an. Nochmals vielen Dank.«
    Er legte auf, zündete sich eine weitere Zigarette an und blickte nachdenklich aus dem Fenster.
     
    Nur gut, daß er sensibel war wie ein exaltiertes Dämchen. Das war bei Männern selten. Er hatte ein Gespür für nahende Gefahr:
     Da war sie, um die Ecke, war im nächsten Moment da … Das ließ sich nicht mit Worten erklären – der Magen zog sich zusammen,
     das Herz schlug dumpf und langsam.
    So war es gestern gewesen, am frühen Abend, als er im Bierlokal »U Fleků« gesessen und sein phantastisches, unglaubliches
     Glück gefeiert hatte, an das er selbst kaumglauben konnte. Am liebsten hätte er sich gekniffen und sich gefragt: Ist das auch kein Traum? Ist das wirklich wahr?
    Denis schaute zu, wie ein magerer junger Bursche an dem altersschwarzen Bierfaß das bernsteingelbe »Desítka« zapfte – helles
     Bier mit zehnprozentiger Stammwürze. Der Bursche wirkte wie ein Teil eines Fließbandes, die eine Hand schob unentwegt Bierseidel
     hin und her, die andere drehte den Messinghahn auf und zu. Denis wußte, daß diese Bierstube achthundert Jahre alt war und
     in den achthundert Jahren keinen einzigen Tag ihre Arbeit unterbrochen hatte. Auch das Bierrezept war noch dasselbe.
    Das Goldene Prag war auch deshalb golden geblieben, weil es sich in jedem Krieg stets sofort dem Feind ergeben hatte. Die
     Türken, die Kreuzritter und andere Eroberer, und das waren im Laufe des Jahrtausends nicht wenige gewesen, hatten die wunderschöne
     Stadt nicht angerührt, Häuser und Kirchen nicht

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