Keiner wird weinen
fünfundvierzigjährige Frau Galja und den dreißigjährigen
Unternehmer Anton Kurbatow zu einer Woche der Leidenschaft geworden. Anton hatte eine Weile aus seiner Wohnung verschwinden
müssen. Wieder einmal war ein Versuch der Brüder Kurbatow, schnell das große Geld zu machen, gescheitert.
Vor einem halben Jahr hatten sie eine kleine Maklerfirma zum Kauf von Immobilien in Tschechien gegründet. Eine Schnapsidee,
wie alle ihre vorherigen Versuche, rasch reich zu werden. Es gab kaum etwas, das sie in den letzten fünf Jahren nicht verkauft
hatten. Italienische Schuhe, deutsche Pampers und Tampons, türkische Lammfellmäntel, französische Schokolade, Reisen nach
Zypern, amerikanischeFitneßprogramme, Wasser des Lebens aus Tibet, Haarwuchs- und Haarentfernungsmittel – es ließ sich gar nicht alles aufzählen.
Manchmal hatten sie sogar Glück und verdienten tatsächlich etwas. Zwei-, dreimal waren sie in diesen fünf bewegten Jahren
in höchst unangenehme Geschichten geraten, hatten sich aber jedesmal im letzten Moment aus der Affäre ziehen können.
Diesmal wurde ihre Maklerfirma ernsthaft unter Druck gesetzt, und zwar gleich von zwei Seiten: zum einen von Banditen, zum
anderen vom Finanzamt. Als die Sache losging, war Denis nach Prag gefahren, dort befand sich eine Scheinfiliale der Firma,
bestehend aus einem Zimmer in der Wohnung ihres tschechischen Freundes Jiří Slovcík. Es mußten ein paar Dokumente beseitigt
und Spuren verwischt werden.
Anton war in Moskau geblieben, um zu versuchen, sich wenigstens mit einer der feindlichen Seiten zu einigen, einen Kompromiß
zu suchen, ein Schlupfloch, oder für eine sichere kriminelle Schirmherrschaft zu sorgen, die auf einen Schlag alle Probleme
sowohl mit den Schutzgelderpressern als auch mit dem Finanzamt regelte.
Er hatte in diesen drei Tagen Kontakt zu entsprechenden seriösen Leuten aufnehmen können, doch die befanden, die kleine Maklerfirma
sei ihrer hohen Protektion nicht würdig. Indessen nahm der Druck von beiden Seiten bedrohlichen Charakter an. Sie durften
nicht mehr zögern. Anton traf eine Entscheidung: Die Firma verschwand, löste sich in Luft auf, als hätte sie nie existiert.
Den kleinen Keller, in dem sich ihr winziges Büro befunden hatte, ließ eine andere Firma nach Euro-Standard komplett modernisieren,
ohne die geringste Ahnung von der Firma Star-Service zu haben, die noch vor einer Woche in diesen Räumen gesessen hatte. Telefon-
und Faxnummer gehörten nun vollkommen Fremden. Anton selbst wandertevon einer Frau zur anderen und ließ sich in seiner Wohnung nicht blicken.
Das alles wußte Denis nicht. Er war in Prag. Ihr letztes Telefonat lag eine Woche zurück, da hatte die Lage noch nicht so
hoffnungslos ausgesehen. Dann war die Verbindung abgerissen. Jiří Slovcík versicherte, Denis sei die ganze Woche nicht bei
ihm aufgetaucht und habe auch nicht angerufen. Das Telefon in seinem Hotelzimmer blieb stumm. Doch Anton machte sich keine
allzu großen Sorgen um seinen Bruder. Dort in Prag war es für ihn im Moment ruhiger als hier in Moskau.
Denis Kurbatow stürmte in den Kundenraum des kleinen Reisebüros in der Ahornstraße und sah sich gehetzt um. Es war kein einziger
Kunde im Raum.
»Guten Morgen, mein Herr. Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte das Mädchen am Computer lächelnd.
»Ein Fax, bitte! Ich muß dringend ein Fax nach Moskau schicken!«
»Heilige Muttergottes! Denis!« Das Mädchen stand auf.
Sie war groß, ein wenig füllig und sehr hübsch. Dichter leuchtendroter Haarschopf, große runde, dunkelgrüne Augen, weiches
ovales Gesicht, volle Lippen. Denis starrte sie minutenlang begriffsstutzig an.
»Habe ich mich etwa so verändert?« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Aber du hast dich auch verändert. Nach so vielen Jahren.«
Sie seufzte. »Ich bin Agneška Klimovicová. Jetzt Böhmová.«
Agneška … Daß er sie nicht gleich erkannt hatte! Mit vierzehn waren sie ein schicksalhaftes Dreieck gewesen: Der rothaarigen
Agneška gefiel Anton, und sie gefiel Denis. Seine erste Liebe – bitter, dumm und unsinnig. Er war nicht eifersüchtig gewesen
auf seinen Bruder. Es hatte nur weh getan.
Damals war ihr ganzes Gesicht mit kräftigen frechen Sommersprossen übersät gewesen. Sie war sehr dünn und lang,hielt sich krumm und genierte sich furchtbar. Sie schmachtete Anton an, gab ihm ihre Schlagsahne und schrieb ihm seine Aufsätze.
In der vierten Klasse hatte Vater
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