Keiner wird weinen
zerstört. Alles war in seiner ursprünglichen Form erhalten – die Karlsbrücke,
der Sankt-Veits-Dom, die verwinkelten Gassen der Altstadt. Die schwarzen Pflastersteine des Wenzelsplatzes erinnern sich noch
an die Feuer der Inquisition, in denen die weltberühmten Prager Alchimisten verbrannt wurden. Auch dieses alte Bierlokal mit
den immer gleichen Tischen, Bänken und Bierfässern, mit »Desítka« und »Dvanácatka« war ein Symbol der Ewigkeit.
Denis spießte mit der Gabel das letzte in Soße getunkte Knödelstück auf, nahm einen Schluck von seinem dunklen »Dvanácatka«
und erstarrte plötzlich. Warum? Woher kam dieses vertraute Gefühl einer Gefahr? Er hätte lieber nicht sein geliebtes dunkles
Bier bestellen sollen. Es war zu stark, vernebelte den Kopf und ließ die Beine watteweich werden. Aber warum brauchte er jetzt
einen klaren Kopf? Weil ihn aus der Tiefe des halbdunklen Saals eigenartige, reglose Augen beobachteten.
Denis versuchte durch den Tabakqualm hindurch das Gesicht auszumachen, erkannte aber nur einen akkuratenschwarzen Schnurrbart, einen mächtigen Hals und ein zerknittertes Jackett über einem schwarzen T-Shirt.
Warum starrt er mich so an? Vielleicht ein Schwuler? Davon hängen in den Bierlokalen viele rum, immerhin ist Touristensaison
…
Doch ihm war klar, daß er sich etwas vormachte, daß er den Kopf in den Sand steckte wie ein dummer Strauß. Der Mann war kein
Schwuler. Das war der Türke, der Killer. Denis hatte ihn schon einmal gesehen, auf dem Flughafen in Ankara. Damals war er
entkommen, und das war ein Wunder gewesen. Zwei Männer hatten ihn verfolgt, ein junger und ein alter. Der hier war der Junge,
der mit dem schwarzen Schnurrbart. Und er Idiot hatte gedacht, sie wären alle gefaßt worden. Er hatte es doch im Fernsehen
gesehen. Der Korrespondent aus Ankara hatte sehr überzeugend berichtet, daß Interpol sie alle verhaftet habe. Aber wirklich
alle, das gibt es eben nicht. Da saß er, einer von ihnen, hinten im Saal und durchbohrte Denis mit seinen kohlrabenschwarzen
Augen. Das war vorauszusehen gewesen, aber was hätte er tun sollen? Bodyguards engagieren? Sich in einen gepanzerten Bunker
verkriechen? Früher oder später hätten sie ihn auf jeden Fall erwischt, egal, ob in Moskau, in Prag, am Nord- oder am Südpol
oder auf dem Grund des Ozeans. So hatte er immerhin ein Jahr in Ruhe gelebt. Dafür konnte er doch dankbar sein.
Aber warum gerade jetzt? Hing beides irgendwie zusammen? Ach was, Unsinn. Und wenn Anton in Moskau ebenfalls verfolgt wurde?
Anton hatte kein so feines Gespür, er würde die Gefahr nicht rechtzeitig bemerken. Allein bei dem Gedanken daran wurde Denis
übel. Doch Anton hatte ja mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Sie wollten Denis.
Ein wenig ruhiger geworden, rief Denis den Kellner heran, zahlte, gab ein großzügiges Trinkgeld und ging ohne Eile zum Ausgang.
Er kannte sich aus in der Altstadt, er würde den Killer in den engen mittelalterlichen Gassenschon abhängen. Schließlich war er in dieser Stadt geboren. Hauptsache, die ganze Zeit in der Menge bleiben, an belebten Orten.
In der Menge würde der Killer kaum schießen. Oder hatte er ein Messer?
Er durfte weder ins Hotel zurück noch ins Büro der Firmenfiliale, wo er sein Auto stehengelassen hatte. Womöglich lauerten
sie ihm dort auf. Höchstwahrscheinlich war der Killer nicht allein.
Dann begann eine anstrengende Jagd durch die schönste Stadt der Welt. Denis liebte diese Stadt, er kannte die Geschichte jeder
Straße der Altstadt, er fühlte sich hier wohl und geborgen. Nur jetzt nicht.
Es wurde Nacht, die Straßen leerten sich allmählich. Denis mischte sich unter eine Gruppe englischer Touristen und ging langsam
über die Karlsbrücke. Die Touristen stiegen lärmend in einen Bus. Er sah sich um und entdeckte, daß er ganz allein unter dem
hellen Strahl einer Straßenlaterne stand – eine lebende Zielscheibe. Er rannte in die Dunkelheit, entdeckte eine kleine Gruppe
junger Leute und lief zu ihnen. Es waren Studenten aus Amsterdam. Sie boten ihm gleich einen Joint an. Er lehnte ab.
Hin und wieder glaubte er den schnurrbärtigen Killer zu sehen: hinter einer Ecke, im Schatten einer blühenden Linde. Die schwarzen,
reglosen Augen spiegelten sich im Schaufenster eines Souvenirladens. Die berühmte Uhr am Altstädter Rathaus schlug Mitternacht.
Langsam glitten die Figuren der zwölf Apostel im Kreis vorbei. Die Augen der wenigen
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