Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
Anführer der Klasse war. Kindliche Listen durchschauten
     diese erfahrenen Pädagogen schnell – aber Kolja Koslow war auf erwachsene Art listig, dreist und zynisch.
    Das Gefühl sagte Kolja, daß er jeden hinters Licht führen konnte – bis auf eine einzige Person: die Direktorin Galina Georgijewna.
     Sie fiel auf seine unschuldigen, klaren Augen und seine vernünftigen Worte nicht herein. Er spürte förmlich ihr Mißtrauen
     ihm gegenüber. Das war gefährlich.
    Die hochgewachsene Frau in dunkelblauem Silastikkostüm und weißer Bluse tauchte stets lautlos und überraschend auf – im Schlafsaal,
     im Klassenraum, im Spielzimmer. Minutenlang stand sie da und beobachtete schweigend. Sobald man sie bemerkte, zuckten alle
     zusammen, verstummten und nahmen Haltung an, nicht nur die Kinder, auch die Erzieher und Lehrer. Später eignete sich Kolja
     Koslow diese ihre Manier an. Es gefiel ihm, wenn alle erschraken und verwirrt waren, sich quasi ertappt fühlten.
    Das derbe, breite Gesicht der Direktorin war stets dick rosa gepudert. Der damals modische Perlmuttlippenstift ließ ihre schmalen
     Lippen noch schmaler und trockener wirken. Die akkurat mit schwarzem Konturstift umrahmten wäßrigblauen Augen schauten jedem
     direkt ins Herz. Das weißblondierte Haar war zu einem komplizierten modischen Zopf gelegt. Die Direktorin roch nach dem süßen
     Parfüm »Rotes Moskau«.
    Galina Georgijewna hob nie die Stimme. Im Gegenteil, sie sprach ganz leise, und alle verstummten, um jedes Wortzu verstehen. Auch diese Manier merkte sich Kolja und übernahm sie später, als Erwachsener.
    Den stärksten und einflußreichsten Menschen in seiner Umgebung sollte man lieber als Verbündeten haben als zum Feind. Oder
     noch besser – als Schuldner.
    Natürlich versuchten viele, die Sympathie der allmächtigen Direktorin zu erringen. Aber sie fiel weder auf grobe Schmeicheleien
     herein noch auf primitives Petzen, lakaienhafte Freundlichkeit oder Dienstbeflissenheit. Kolja beobachtete die kläglichen
     vergeblichen Versuche, sich bei Galina Georgijewna einzuschmeicheln, und wartete geduldig auf eine günstige Gelegenheit. Er
     wußte: Die Direktorin war nicht durch alberne Schmeicheleien oder vorbildliches Verhalten zu beeindrucken. Nur durch eine
     Tat. Und eine solche Gelegenheit sollte er bekommen.
     
    Es war ein sehr kalter Februar. Der Drittkläßler Garik Golowanenko, ein Hauskind mit einer tatsächlichen Oligophrenie, war
     über die Feuerleiter auf das Dach des vierstöckigen Heimgebäudes geklettert, stand dicht am Rand und brüllte wie am Spieß:
     »Ich springe jetzt, du Sau! So weit hast du mich gebracht!« Diese Drohungen galten niemand anderem als Galina Georgijewna
     höchstpersönlich.
    Das ganze Heim war in den Hof gerannt gekommen, alle schauten zu Garik, der auf der glatten, eisbedeckten Dachkante balancierte
     und sich mit einer Hand an der wackligen Umzäunung festhielt.
    »Stehenbleiben, oder ich springe!« brüllte er.
    Niemand wagte einen Schritt zur Feuerleiter.
    Auch Kolja erstarrte. Sein Kopf arbeitete fieberhaft: Wenn dieser Idiot runterfiel, kam die Direktorin in den Knast. Eine
     einmalige Chance …
    Er wußte, wie man vom vierten Stock auf den Dachboden gelangte. Von dort gab es einen Ausgang aufs Dach. Während alle noch
     dastanden und schauten, rannte Kolja hinaufin den vierten Stock und trat die Bodentür ein. Im nächsten Augenblick kroch er schon über das vereiste Dach. Garik konnte
     ihn nicht sehen, doch von unten hatte man ihn bemerkt, und auf einmal herrschte Grabesstille.
    Garik rutschte mit einem Bein ab. Ohne Handschuhe konnte er sich an dem eiskalten Metallgitter kaum noch halten. Kolja packte
     ihn am Handgelenk. Garik zuckte vor Überraschung heftig zusammen, und auch das andere Bein verlor den Halt. Er fiel und zog
     Kolja ebenfalls an den Rand des Daches. Speichelsprühend brüllte er weiter, nun Kolja ins Gesicht: »Laß mich los, du Schwein,
     ich will nicht mehr leben!« Dabei hielt er Koljas andere Hand fest umklammert. Unter ihnen lag der schneeverwehte Asphalt
     des Hofs.
    Endlich hatte man sich unten besonnen. Ein Pfleger und der Hausmeister Makarytsch kamen die Feuerleiter hinaufgeklettert.
    »Durchhalten, Jungs!« rief der Hausmeister immer wieder.
    Der Pfleger schnaubte nur wortlos. Kolja hatte mit einer Hand Gariks Handgelenk umfaßt, mit der anderen hielt er sich an der
     Umzäunung fest. Auch er trug keine Handschuhe, seine Finger wurden langsam taub. Zudem war der

Weitere Kostenlose Bücher