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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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scheinbar so dürre Garik furchtbar
     schwer. Sein Schrei war nur noch ein langgezogenes »A-a-h!«. So laut, daß es Kolja in den Ohren dröhnte. In eine kurze Pause
     hinein zischte Kolja leise: »Sei still, oder ich laß los.«
    Garik verstummte. Er schrie erst wieder, als der Pfleger ihn gefesselt die Treppe vom vierten Stock hinuntertrug. Er wußte,
     daß es für ihn nun nur noch einen Weg gab – in die Psychiatrie. Für die paar Minuten Rausch, den er empfunden hatte, als er
     alles herausschrie, was er über die allmächtige Direktorin dachte, würde er lange und grausam bezahlen müssen. Erst als man
     ihm im Krankenwagen der Kinderpsychiatrie eine gehörige Portion Aminazin gespritzt hatte, wurde er endgültig still.
    Die Direktorin ging zu Kolja und legte ihm den Arm um die Schultern. Selbst unter der Puderschicht war zu sehen, daß ihr Gesicht
     aschfahl war.
    In der Psychiatrie würden sie Garik vielleicht zum Gemüse machen – zu einem Idioten, der einpißte und seine eigenen Fäkalien
     aß. Das würde ganz legal geschehen, niemand würde dafür zur Verantwortung gezogen werden. Wäre der Junge dagegen vom Dach
     gefallen, hätte Galina Georgijewna Gefängnis gedroht.
    »Na, Kolja Skwosnjak 1 , ist dir kalt?« fragte sie und zauste ihm zärtlich das Haar.
    Sie wußte selbst nicht, warum sie den Jungen »Skwosnjak« genannt hatte. Vielleicht, weil er so leise war, weil er schnell
     und lautlos wie ein Lufthauch aus dem Nichts auftauchen und im Nichts verschwinden konnte. Er war ihr schon früher aufgefallen,
     er war anders als ihre übrigen Zöglinge. Ihr war klar: Dieser Junge war völlig normal und gesund, mehr noch – er war sehr
     klug für sein Alter. Solche Kinder waren ihr in ihrer langjährigen Praxis bereits begegnet, wenn auch selten.
    Als Galina Georgijewna noch jung war, hatte sie versucht, um sie zu kämpfen, es manchmal sogar geschafft, daß die verheerende
     Diagnose aufgehoben wurde. Aber das war jedesmal so nervenaufreibend gewesen, daß sie gar nicht mehr daran denken mochte.
     Allmählich hatte sie sich daran gewöhnt, normale Kinder nicht mehr wahrzunehmen, sie nicht mehr aus der Masse herauszuheben.
     Zumal sie ohnehin rasch mit dieser Masse verschmolzen. Ein, zwei Krankenhausaufenthalte, und so ein Kind war wie alle.
    Aber Kolja Koslow war schwer zu übersehen. Er war ein Anführer. Ihre Intuition und ihre langjährige Erfahrung sagten ihr,
     daß von diesem Jungen ernsthafte Unannehmlichkeiten zu erwarten waren. Er ist gerissen, sehr gerissen,dachte die Direktorin, wenn sie hin und wieder ihren kalten, scharfen Blick auf ihm ruhen ließ.
    Daß ausgerechnet Kolja Koslow sie einmal vorm Gefängnis bewahren würde, hätte Galina Georgijewna nie geahnt. Sie war ratlos.
     Sie mußte den Jungen schließlich für seine gute Tat belohnen.
    »Übermorgen ist Sonntag«, sagte sie und preßte den Kopf des Jungen an ihre große weiche Brust, »da nehme ich dich mit zu mir
     nach Hause, Kolja Skwosnjak. Magst du?«
    Erzieher und Lehrer nahmen manchmal, höchst selten, Heimkinder zum Wochenende mit nach Hause. Die Direktorin allerdings hatte
     das in der ganzen Geschichte des Heims noch nie getan.
    »Ja«, antwortete Kolja kaum hörbar.
    Der steife Stoff ihres Kostüms roch nach Tabak und süßem Parfüm.
    »Na, lauf in den Speisesaal, Skwosnjak, sag, ich hab angewiesen, sie sollen dir einen heißen Tee geben.«
    Die Kinder und Erzieher auf dem Hof ließen sich kein Wort entgehen. Seitdem hieß Kolja Koslow endgültig Skwosnjak.

Siebtes Kapitel
    »Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung«, sagte eine unbekannte Männerstimme am Telefon, »Sie kennen mich nicht …«
    »Worum geht es, junger Mann? Wen möchten Sie sprechen?« fragte Veras Mutter Nadeshda streng.
    »Es ist so, Ihre Nummer gehörte vor kurzem der Firma Star-Service, und ich habe eine große Bitte …«
    »Was soll das, wollen Sie mich verhöhnen? Wir haben genug von diesem Star-Service! Lassen Sie uns in Ruhe!«
    »Verzeihen Sie, warten Sie …«, bat Anton Kurbatow, doch im Hörer tutete es nur noch.
    »Wer war dran, Mama?« rief Vera aus ihrem Zimmer, ohne den Blick vom Computermonitor zu wenden.
    »Wieder diese verdammte Firma. Demnächst stelle ich das Telefon ganz ab.«
     
    »Nein, so wird das nichts«, murmelte Anton vor sich hin. »Wahrscheinlich sind diese Leute wirklich total genervt von den dauernden
     Anrufen. Aber sie haben ein Fax. Der Apparat in Agneškas Büro hat schließlich signalisiert, daß das Fax

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