Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
zehn Kniebeugen.
    Beim Frühstück bemühte er sich, ordentlich zu essen, ohne Hast und ohne sein Gesicht mit Brei zu beschmieren. Die Versuchung,
     den Teller abzulecken, war groß, der Brei war alle, und er hatte noch immer Hunger. Aber Kolja brachte seinen Teller zum Waschbecken.
     Beim Mittag fiel es ihm schon leichter, sich zu beherrschen.
    In der Nacht wartete er, bis es still war im Flur, und huschte in den Waschraum. Diesmal schaffte er schon fünfundzwanzig
     Liegestütze und zwölf Kniebeugen.
    Drei Tage später wurde er entlassen. Er hatte nur zwei Wochen im Krankenhaus gelegen. Und er wußte nun genau, daß er dort
     nie wieder hinwollte. Um nichts auf der Welt.
    Normal zu bleiben unter lauter Oligophrenen, klug zu sein unter lauter Dummköpfen ist sehr schwer, besonders wenn man erst
     neun Jahre alt ist und sich noch nicht von den Spritzen erholt hat, wenn im Kopf dichter Nebel herrscht, die Arme schwach
     sind und alle ringsum nur darauf warten, daß man wieder ausrastet.
    Das gesamte Leben im Heim bestand aus einer endlosen Kette gegenseitiger Angriffe und Provokationen. Man durfte niemandem
     vertrauen. Die Kinder verrieten einander, ohne mit der Wimper zu zucken – aus Angst vor Bestrafung oder für einen halben Keks,
     ein Bonbon, für jeden Happen Essen. Kolja lernte, mit dem Hunger fertig zu werden. Er wußte, daß es weit größere Freuden gab
     als einen halben Keks.
    Zum Beispiel konnte man für einen Leckerbissen ein verhaßtes Hauskind dazu bringen, mitten im Unterricht zu krähen wie ein
     Hahn, vor aller Augen deine Spucke aufzulecken oder der Lehrerin ein paar Rubel aus dem Portemonnaie zu klauen. Ein ganz besonderer
     Genuß war es, dem Hauskind den verdienten Leckerbissen anschließend zu verweigern.
    Wenn es dabei am Ende zu einer Prügelei kam, lockte Kolja den betrogenen, bis zur Hysterie gereizten Klassenkameraden in die
     Nähe des Lehrerzimmers, wich geschickt den Schlägen aus und schlug nur hin und wieder selbst zu, wenn es niemand sah. Die
     Streithähne wurden schnell getrennt, und nie war Kolja der Schuldige.
    Die anderen Jungen spürten seine Macht und waren bestrebt, sich ihm anzuschließen. Bald hatte er eine ArtGefolgschaft um sich geschart. Ausschließlich Heimkinder, die ihm blindlings gehorchten.
    Er wand sich aus den heikelsten Situationen heraus, die er mit Hilfe seiner Getreuen oder allein angezettelt hatte. Doch stets
     war er der einzige, der begriff, was da geschah – bewußt genoß er die Raserei der behinderten Kinder und die Hilflosigkeit
     der erschöpften Erwachsenen.
    Manchmal nahm er sich ein Hauskind vor, meist das ruhigste, unversehrteste, und verhöhnte es systematisch. Nachts ließ er
     jemanden aus seiner Gefolgschaft in ein Glas pinkeln, dann wurde der Inhalt heimlich in das Bett des auserkorenen Opfers gekippt.
     Kurz darauf schrie jemand: »Iii! Es stinkt! Ein Pisser! Ein Stinker!«
    Das Opfer tobte, schrie, es sei kein Pisser, und brachte sich und die Erzieher zur Weißglut. Am Ende landete es im Krankenhaus.
    Spaß machte es auch, mitten in der Nacht im Schlafsaal eine Kissenschlacht anzuzetteln, bei der die leicht erregbaren Oligophrenen
     völlig ausrasteten, und dann leise hinauszuschlüpfen, die diensthabende Erzieherin zu wecken und erschrocken und vertrauensvoll
     zu flüstern: »Maria Petrowna, kommen Sie, sehen Sie sich an, was da los ist. Sie sind alle total verrückt geworden.«
    Noch lustiger war es, zu beobachten, wie die ältliche, dicke, vom Schlaf zerzauste Frau im tobenden Schlafsaal hin und her
     rannte und versuchte, für Ruhe zu sorgen. Und ihr dann ins Ohr zu flüstern: »Das war Sidorow, der ist in letzter Zeit überhaupt
     irgendwie komisch, richtig zum Fürchten.«
    Manchmal endete das damit, daß der arme Sidorow am nächsten Tag ins Krankenhaus geschafft wurde. Und niemand kam je auf die
     Idee, den ruhigen, vernünftigen Kolja Koslow zu verdächtigen.
    »Gehen Sie schlafen, Maria Petrowna. Wenn sie wieder anfangen, sich zu prügeln, dann wecke ich Sie schnell«, sagte Kolja mit
     aufrichtigem Mitgefühl zu der erschöpften Erzieherin. »Machen Sie sich keine Sorgen, Sie brauchen Ihren Schlaf.«
    Er hatte gelernt, unschuldig und aufrichtig dreinzublicken, Erziehern und Lehrern subtil wie ein Erwachsener zu schmeicheln.
     Sie konnten sich nicht vorstellen, daß ein Kind mit einer solchen Diagnose soviel raffinierte Bosheit entfalten konnte, selbst
     wenn dieses Kind sich von den anderen unterschied und der unbestrittene

Weitere Kostenlose Bücher