Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
als die Tabletten.
    Er mußte stillhalten. Sollten sie denken, daß er alles begriffen hatte.
    Kolja schloß die Augen und stellte sich schlafend.
    In der Aufnahme stank es nach Desinfektionsmittel. Die gekachelten Wände ließen die Stimmen widerhallen, jeder Schrei wurde
     von einem Echo verstärkt.
    »Bitte nicht! Laßt mich los! Ich tu’s nie wieder! Ich will nach Hause! A-a-h!« Ein zaundürres, kahlgeschorenes Mädchen, vielleicht
     zehn Jahre alt, wand sich splitternackt unter den Händen zweier Frauen im weißen Kittel und mit Mullbinden vorm Gesicht.
    Die Frauen mühten sich, ihr ein gestempeltes Krankenhausnachthemd mit bodenlangen Ärmeln überzuziehen.Sie strampelte mit Armen und Beinen, versuchte die Frauen zu beißen. Aber sie waren stärker. Sie streiften ihr rasch das Hemd
     über und banden die Ärmel auf dem Rücken zusammen. Das Mädchen schrie nicht mehr, sondern schluchzte nur noch leise und verzweifelt.
    »Ich tu’s nie wieder, Tantchen, laßt mich nach Hause zu Mama.«
    »Red keinen Quatsch, Kolpakowa.« Die eine der beiden Frauen seufzte müde. »Was für eine Mama? Du bist doch aus dem Heim.«
    Daraufhin fiepte das Mädchen leise wie ein kranker Welpe. Die Frauen brachten sie schnell weg.
    Dumme Gans, dachte Kolja und schaute dem Mädchen gleichgültig nach.
    Er ließ sich brav ausziehen und in der schrundigen, vom Kaliumpermanganat ganz braunen Wanne waschen. Er half sogar dabei,
     lächelte die ältere Pflegerin freundlich an und dachte bei sich, mit so einer Oma könnte er spielend fertig werden, wenn er
     wollte. Aber was hätte er davon? Sofort würden kräftige Matronen und Sanitäter angerannt kommen.
    Die Pflegerin zog ihm ein normales Nachthemd mit kurzen Ärmeln an.
    »So ein lieber Junge, so brav«, sagte sie auf dem Weg ins Krankenzimmer.
    Von den zehn Betten war nur eins frei, am Fenster. Dorthin führte die Pflegerin Kolja. Noch ehe er sich seine Bettnachbarn
     ansehen konnte, kam der Arzt, ein kleiner, schmächtiger Mann mit komischer runder Brille, die ihm auf der Nasenspitze saß.
    »Na, Kolja Koslow, wollen wir weiter um uns schlagen?« fragte er.
    »Nein.« Kolja senkte schuldbewußt den Blick. »Ich war im Unrecht. Ich möchte alle um Verzeihung bitten, die ich gekränkt habe.«
    Der Arzt sah ihn interessiert an. Die Spritze wirkt noch, begriff Kolja mühsam. Aber sein Gespür ließ ihn nicht im Stich.
     Er mußte diesem Hänfling gefallen. Von ihm hing vieles ab. Und Kolja haßte ihn dafür. Doch er blickte zu Boden und spielte
     den reumütigen Sanften.
    Ruhig und vernünftig beantwortete er alle Fragen, ließ sich widerstandslos abhören und untersuchen. Der Arzt tätschelte ihm
     herablassend den Nacken und ging. Dann kam eine Schwester mit einer Spritze. Kolja biß, zitternd vor Haß, die Zähne zusammen
     und ließ sich spritzen.
    »Du denkst wohl, du bist der Schlaueste hier?« fragte der Junge vom Bett nebenan. »Da drüben, da liegt auch so ein Schlauer.«
    Kolja schaute in die Richtung, in die sein Bettnachbar wies. Dort saß ein etwa achtjähriger Junge und wiegte sich mit blödem
     Lächeln und debilem Gesichtsausdruck vor und zurück wie ein Stehaufmännchen.
    »Gemüse«, kommentierte Koljas Bettnachbar. »Der ißt seine eigene Scheiße. Der war auch schlau, hat stillgehalten und sich
     nicht gewehrt. Aber eines Tages hat er es nicht mehr ausgehalten, hat der Schwester die Spritze aus der Hand gerissen und
     sie ihr ins Bein gejagt. Jetzt ist er Gemüse. Und der da drüben, das war auch so ein Schlauer, der hat eines Nachts das Flurfenster
     eingeschlagen. Wollte abhauen. Nun ist er auch Gemüse.«
    »Aminazin! Gebt mir Aminazin!« schrie jemand am anderen Ende des Zimmers.
    Ein unglaublich dicker Junge kroch von seinem Bett herunter, wälzte sich auf dem Boden, zuckte und schrie wie ein Ferkel.
     Sofort kamen ein Pfleger und eine Schwester mit einer Spritze in der Hand herein. Sie hievten den Dicken wieder aufs Bett
     und spritzten ihm die volle Dosis. Er wurde still.
    »Ist der auch Gemüse?« fragte Kolja seinen Nachbarn leise.
    »Der ist ein Holzklotz.«
    »Was heißt das?«
    »Der kommt von hier in die Neuropsychiatrie, für immer.«
    Diesmal hatten sie Kolja etwas anderes gespritzt, kein Aminazin. Er wurde müde, die Augen fielen ihm zu. Aber er mußte noch
     weiter mit seinem Bettnachbarn reden, dem einzigen Normalen im ganzen Zimmer.
    Er hieß Slawik und war ein Jahr älter als Kolja. Er kam ebenfalls aus dem Kinderheim, mit derselben

Weitere Kostenlose Bücher