Keiner wird weinen
Hof hing eine Wäscheleine, von Fenster zu Fenster gespannt. Daran trockneten Laken und Babystrampler.
Die Tür ging auf, eine sehr große, stämmige Blondine in Jeansshorts und ärmellosem T-Shirt kam herein.
»Bist du okay?« fragte sie. »Hast du Hunger?«
Sie hieß Karolina und kam aus Schweden. Während Denis eine kalte Pizza aß und lauwarme Pepsi-Cola dazu trank, erfuhr er, daß
er einen ganzen Tag lang bewußtlos gewesen war.
»Das hier ist eine kleine Pension«, erklärte Karolina. »Ich habe hier ein Zimmer gemietet. Du hast wahrscheinlich eineGehirnerschütterung. Aber du hast ja keine Krankenversicherung, deshalb habe ich keinen Arzt geholt. Und an die örtliche Polizei
solltest du dich lieber nicht wenden.«
»Ich muß ins russische Konsulat«, sagte Denis. »Ich brauche erst einmal Papiere.«
»Und wie willst du nach Ankara kommen?« Die Schwedin blinzelte listig. »Wovon willst du dir ein Ticket kaufen? Übrigens, aus
welcher Stadt in Rußland kommst du eigentlich?«
»Aus Moskau.«
»Oh, wie schön«, sagte Karolina. »Ich habe vor kurzem einen süßen Jungen aus Moskau kennengelernt. Wir haben eine wundervolle
Woche in Antalya verbracht, in einem Bungalow direkt am Meer. Er sprach kein Englisch, aber wir haben uns großartig verstanden.
Vor uns rauschte das Meer, das war so romantisch. Eifersüchtig? Das ist nicht nötig, mein Kleiner.« Sie streichelte ihm sanft
die Wange.
»Nein, ich bin nicht eifersüchtig.« Denis seufzte. »Also, wie komme ich denn nun nach Ankara zum Konsulat?«
»Da ich dich auf der Straße aufgelesen und mitgenommen habe, kann ich dich in diesem Zustand nicht wieder auf die Straße schicken.
Erst mal mußt du ein bißchen zu Kräften kommen, dann fällt uns schon was ein.«
Sie verbrachten volle drei Tage im Bett. Die muskulöse Schwedin war unermüdlich und erfinderisch. In den Pausen wechselte
sie seinen Kopfverband, rieb seine Prellungen mit einem rosa Gel ein und holte rasch Hamburger oder Pizza.
In der ganzen Zeit redeten sie kaum. Sie erklärte, sie sei Studentin, doch Genaueres erfuhr Denis von seiner leidenschaftlichen
Freundin nicht. Nicht einmal ihren Familiennamen, und auch er stellte sich ihr nicht förmlich vor. Wozu – in einer derart
inoffiziellen Situation?
Denis vermutete, er würde die Gastfreundschaft nicht nur mit Liebe bezahlen müssen. Er war bereit, alles zu tun, worum sie
ihn bitten würde. Ohne sie wäre er auf derschmutzigen Straße gestorben, einfach überfahren worden, und niemand hätte je sein namenloses Grab gefunden. Die schöne Schwedin
hatte ihm das Leben gerettet – trotzdem hätte er gern etwas mehr über sie gewußt.
In einem Kommodenschubfach fand er ein Fotoalbum mit rührenden Täubchen auf dem Umschlag. Es enthielt rund zwanzig Polaroids.
Darauf stellte die schwedische Schöne ihre üppigen Reize am Meer zur Schau. Auf den meisten Fotos war sie allein. Doch ganz
hinten entdeckte Denis ein Foto, das sie Arm in Arm mit einem jungen Mann zeigte.
Der Bursche in der engen Badehose war fast einen Kopf kleiner als Karolina, aber sehr gut gebaut. Er blickte ein wenig schräg
von unten ins Objektiv. Sein Gesicht wirkte durchaus angenehm und nicht weiter auffällig.
»Mein süßer russischer Bär« stand auf englisch unter dem Foto.
Die letzten beiden Aufnahmen zeigten den »süßen Bären« allein vor einem malerischen Sonnenuntergang. Einmal auf einer Liege,
mit einem Strohhalm Orangensaft schlürfend, einmal sein Gesicht in Großaufnahme. Darunter stand auf englisch: »Ich weiß, wir
werden uns wiedersehen, mein kleiner russischer Iwan.«
Denis fluchte angewidert und legte das Album zurück in die Schublade.
Am vierten Tag brachte sie ihm Jeans, ein T-Shirt und eine große Sporttasche. Von seiner Kleidung waren nur noch die Turnschuhe
übrig. Den Rest, sagte Karolina, habe sie weggeworfen.
»Deine Sachen waren schmutzig. Und hier kann man nirgends waschen.«
Denis duschte, fand eine Packung Wegwerfrasierer und rasierte sich. Die Prellungen im Gesicht sahen nicht mehr ganz so schlimm
aus, und der Kopfverband konnte abgenommen werden.
Karolina musterte ihn kritisch, holte einen Mascarastift und eine Tönungscreme aus einer Kommodenschublade und kaschierte
sorgfältig die blauen Flecke und Schrammen in seinem Gesicht.
»Was soll das?« fragte Denis, hielt aber brav still.
Die Schwedin kicherte nur leise. Als sie fertig war, betrachtete sie ihr Werk noch einmal kritisch, sagte
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