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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Diagnose.
    »Und du?« fragte Kolja, die Augen weit aufgerissen, damit sie nicht zufielen. »Wieso bist du kein Gemüse geworden?«
    »Ich beherrsche mich einstweilen noch. Aber lange halte ich das nicht mehr aus. Ich bin dieses Jahr schon das dritte Mal hier.«
    »Warum?«
    »Ich haue immer ab. Ich will meine Mutter finden.«
    Der ist genauso wie alle anderen, dachte Kolja verächtlich und schlief unversehens ein.
    Als er die Augen öffnete, herrschte trübe Morgendämmerung. Ein Stück grauer Winterhimmel hinter dem vergitterten Fenster,
     Morgenvisite, eine ganze Schar Ärzte und Schwestern mit weißen Mullbinden vorm Gesicht, wieder eine Spritze, dann Frühstück,
     das gleiche wie im Heim: Milchreis, dünner, übersüßter Kakao, ein wassertriefender Würfel Butter auf einem Stück Graubrot.
     Viele am Tisch aßen den Milchreis mit den Händen oder schleckten ihn aus der Schüssel wie Hunde.
    Außer den Spritzen bekam er noch Tabletten, dreimal am Tag. Ebenso wie im Heim schluckte er sie nicht hinunter, sondern verbarg
     sie in der Wange und spuckte sie dann aus. Doch eines Tages schluckte er versehentlich eine hinunter. Er wollte zur Toilette
     rennen und sich zwei Finger in den Hals stecken, um zu erbrechen. Doch dann war er zu fauldazu und auch zu kraftlos. Einmal ist nicht schlimm, entschied er. Und am Abend schluckte er wieder zwei Tabletten runter.
    Ich muß hier abhauen, dachte er, sonst werd ich zum Gemüse oder zum Holzklotz.
    Aber das Denken war irgendwie mühsam, er war zu träge dazu. In seinem Kopf herrschte ständig dichter Nebel, genauso grau wie
     der Himmel draußen und wie die Gesichter der Gemüse. Außerdem hatte er ständig Hunger. Der Hunger wurde zum dominierenden
     Gefühl, er nahm mit jedem Tag zu und übertönte alles andere – Haß, Angst und Verzweiflung.
    Slawik wurde in den ersten Stock verlegt. Nun lag in seinem Bett ein kleiner Junge, höchstens sechs. Er redete mit niemandem,
     zog sich die Decke über den Kopf und weinte.
    Eines Tages, als Kolja beim Abendbrot gierig die Kartoffelbreireste vom Teller leckte, sagte plötzlich jemand: »Tu das nicht,
     Koslow. Hör auf damit.«
    Er blickte auf. Vor ihm stand Slawik.
    »Ich werd morgen entlassen«, sagte er leise, »ich komme nie wieder hierher. Ich werde nicht mehr weglaufen. Ich habe keine
     Mama. Selbst wenn ich mal eine hatte, dann hat sie mich verlassen, die Sau, und ich brauch sie gar nicht suchen. Ich hab’s
     geschafft, Koslow, ich hab durchgehalten. Ich hab keinem die Fresse poliert, war ganz brav und still. Nun werde ich entlassen,
     zurück ins Heim. Ich werd mich von den Spritzen erholen, und dann bin ich wieder normal. Aber du, Koslow, leck den Teller
     nicht ab wie ein Hund. Damit fängt alles an.«
    Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Kolja sah ihm nach und dachte: Den Teller nicht ablecken? Aber er hatte doch Kohldampf!
    Eines Nachts erwachte Kolja, weil das Laken unter ihm naß war. Er begriff nicht gleich, was passiert war, und danndurchfuhr es ihn wie glühendes Eisen. Nein! Das durfte nicht sein. Niemals.
    Im Heim wurden solche Kinder Pisser genannt. Sie wurden von allen verhöhnt. Lieber sterben als ein Pisser werden! Slawik hatte
     recht, er durfte den Teller nicht ablecken wie ein Hund. Damit fing alles an. Slawik hatte durchgehalten, und auch er würde
     durchhalten, würde wieder runterkommen von den Spritzen.
    Kolja stand leise auf, zog das Laken von der roten Wachstuchunterlage und schlich auf Zehenspitzen in den Flur. Die diensthabende
     Schwester saß schlafend an ihrem Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt. Aus der offenen Tür zum Arztzimmer drang gedämpftes
     Lachen. Der Arzt und der Oberpfleger tranken Tee. Kolja huschte lautlos vorbei, niemand bemerkte ihn.
    Im leeren Waschraum flackerte trübe eine Leuchtstoffröhre. Kolja wusch das Laken in einem Waschbecken aus und hängte es ordentlich
     über die kochendheiße Heizung. Dann machte er auf dem Fliesenboden Liegestütze, wobei er immer wieder flüsterte: »Ich werde
     kein Pisser. Ich werde kein Gemüse. Ich werde kein Holzklotz. Vier, fünf, sechs … Ich hasse alle. Sieben, acht, neun …«
    Seine Arme zitterten vor Schwäche, Schweiß rann ihm in die Augen, ihm war schwindlig, er wollte sich am liebsten schlaff auf
     den Fliesenboden fallen lassen und an nichts mehr denken. Aber er machte weiter. Erst nach zwanzig Liegestützen erlaubte er
     sich eine Verschnaufpause. Dann wusch er sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und machte noch

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