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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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gealtert.
    »Mama, hör mich in Ruhe an, bitte.«
    »Warum hast du das getan?«
    »Herrgott, Mama, warum quälst du dich und mich? Ich konnte Denis einfach nicht in eine Kühlbox legen lassen, in einen Zinksarg,
     in den Frachtraum. Verstehst du das nicht?«
    Anton merkte, daß er anfing zu schreien, und bemühte sich um Beherrschung.
    »Warum hast du Denis verbrennen lassen? Ich habe nicht einmal von ihm Abschied nehmen können, das ist grausam, Junge.«
    Das wiederholte sie mehrmals am Tag, sie konnte über nichts anderes reden. Anton hatte mit seiner Tante, der Schwester seines
     Vaters, die in Alexandrow wohnte, bereits verabredet, daß diese ihre Schwägerin wenigstens für einen Monat zu sich nehmen
     würde. Die Tante besaß ein eigenes Haus mit Garten, und Anton hoffte, daß seine Mutter im Grünen ein wenig zu sich kommen
     würde.
    Er konnte sie nicht allein lassen, und so waren ihm die Hände gebunden. Er spürte: Die Chance herauszufinden, was Denis ihm
     vor seinem Tod mitteilen wollte, wurde mitjedem Tag geringer. Vor allem war er nicht sicher, ob diejenigen, die Denis’ Ermordung in Auftrag gegeben hatten, sich damit
     begnügen würden. Rache war ein heftiges, elementares Gefühl, und man wußte nie, welche Taten es provozierte. Womöglich wollten
     die betrogenen Türken nicht nur mit dem hinterhältigen Betrüger abrechnen, sondern auch mit seinen Angehörigen?
    Anton füllte einen Teller mit kräftiger Hühnerbouillon und stellte ihn in die Mikrowelle. Während die Bouillon sich erwärmte,
     schnitt er Dill und Petersilie klein.
    »Was machst du da? Ich will nichts essen«, sagte seine Mutter und zündete sich die nächste Zigarette an.
    Die Mikrowelle klingelte. Anton verbrühte sich an dem heißen Teller fast die Hände, gab die frischen Kräuter in die Bouillon,
     stellte sie seiner Mutter hin, nahm ihr behutsam die Zigarette aus der Hand und drückte sie aus.
    »Nur ein paar Löffel, Mama, bitte, mir zuliebe.«
    Sie schluckte folgsam ein wenig Bouillon, Anton fütterte sie wie ein kleines Kind.
    Xenia konnte einfach nicht weinen. Sie wußte, daß Tränen Erleichterung bringen würden. So war es gewesen, als ihr Mann gestorben
     war. Die Tränen waren reichlich geflossen, und mit den Tränen war auch der Kummer aus ihrer Seele geströmt.
    Sie hatte sich nie für eine starke Frau gehalten. Alles im Leben war ihr mühelos zugefallen. Sie war hübsch, hatte das Glück
     gehabt, in einer gutsituierten Familie geboren zu sein, ihr Vater war Beamter im Außenministerium, ihre Mutter unterrichtete
     am Institut für Internationale Beziehungen. Ihre Eltern liebten einander und vergötterten die einzige Tochter, die klug und
     schön war. Mit vier Jahren bekam sie den ersten Klavierunterricht. Die Lehrer verhießen ihr zwar keine große Zukunft, versicherten
     aber, das Mädchen sei begabt und fleißig und könne eine gute Pianistin werden.
    Als sie im vierten Jahr am Konservatorium studierte, lernte sie Wladimir Kurbatow kennen. Der eher kleine, untersetzte Wolodja
     mit der frühen Glatze verdrängte in einem Jahr hartnäckigen Werbens alle anderen Verehrer. Er war zehn Jahre älter als Xenia
     und strahlte Ruhe und Sicherheit aus. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und liebte sie treu und zärtlich. Er war ordentlich,
     diszipliniert und zuverlässig – der ideale Ehemann.
    Sie heirateten. Xenia beendete ihr Studium, und gleich darauf wurde Anton geboren. Sie vergaß die Musik fast völlig, sie war
     gern Mutter, Ehefrau und eine gute Hausfrau. Ein knappes halbes Jahr nach Antons Geburt wurde sie erneut schwanger.
    Das war 1968. KGB-Major Wladimir Kurbatow wurde nach Prag geschickt. Nach den bekannten Ereignissen mußte der Lehrkörper an
     der hochexplosiven Prager Universität gestärkt werden. Neue Kader wurden gebraucht, zuverlässig und wachsam. Xenia interessierte
     sich nicht für Politik. Sie hatte sich schnell daran gewöhnt, die Welt mit den Augen ihres Mannes zu sehen.
    Denis wurde in Prag geboren. Xenia arbeitete nicht, sie saß mit den Kindern zu Hause, hielt die Vierzimmerdienstwohnung blitzblank
     und ging gern in den sauberen Prager Geschäften einkaufen, die denen in Moskau in Sachen Angebot und Qualität weit überlegen
     waren. Sie lernte rasch Tschechisch, begeisterte sich fürs Kochen und strickte abends vorm Fernseher hübsche Pullover für
     ihren Mann und die Söhne. Ihr Leben floß im großen und ganzen ruhig und gemächlich dahin, die Söhne wuchsen heran, waren

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