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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Reagenzglas.« Tanja stand auf und lief mit einer Zigarette in der Hand in der Küche auf und ab.
    »Ach so, die, die sie aus Stammzellen gezüchtet haben«, erinnerte sich Vera. »Das kam vor kurzem im Fernsehen, und in der
     Zeitung stand, diese Entdeckung würde die Welt verändern.«
    »Die Welt verändert in der Regel nicht eine geniale Entdeckung, sondern die uralte menschliche Dummheit, die aus jeder Entdeckung
     eine Menschenfresser-Axt macht.« Tanja drückte die Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. »Ich beschäftige mich
     seit zehn Jahren mit der DNS. Je mehr ich weiß, desto weniger verstehe ich. Jeder gewissenhafte Forscher stößt früher oder
     später mit der Nase auf ein Wunder, auf Gottes Plan. Aber nicht jeder hat den Mut, sich das einzugestehen.«
    »Ich habe gehört, also, das hat irgendein berühmter Science-Fiction-Autor im Fernsehen gesagt, wenn die Engländer seelenruhig
     der ganzen Welt von dem geklonten Schaf erzählen, dann wachsen dort garantiert schon geklonte Jungs heran, künftige Supersoldaten
     …«, sagte Vera.
    »Vorerst nur Frösche und Ratten. Jungs bislang noch nicht, Gott sei Dank. Aber das wird bald kommen. Jedes Paar kann sich
     Zellen seines Kindes konservieren lassen, auf Vorrat, für alle Fälle. Wenn dem Kind etwas zustößt – bitte sehr, dann nimmt
     man eine Reservezelle und züchtet daraus einen Klon. Man könnte die ganze Welt scharenweise mit identischen Menschen bevölkern.
     Aber wer entscheidet: Der hier wird geklont, der paßt, dieser dagegen nicht? Das ist Ketzerei, ungemein gefährlich. Das Unwiederholbare
     wiederholen! Die besten Muster auswählen und Menschen abstempeln … Schrecklich! Vermutlich würden sich die Idioten in unglaublicher
     Zahl vermehren.«
    »Wieso?«
    »Weil nur ein selbstverliebter Schwachkopf sich für so vollkommen halten kann, daß er unbedingt kopiert werden muß. Und meine
     Dissertation, das ist auch Ketzerei.«
    »Aber darin geht es doch gar nicht darum.« Vera stand auf und schaltete den Wasserkocher noch einmal ein.
    »Doch, natürlich! Heutzutage dreht sich die gesamte Mikrobiologie darum! Ebenso wie die Kybernetik, die Physik … Hast du Kasparows
     Gesicht gesehen, nachdem ein Computer ihn im Schach geschlagen hatte? Sie haben ein Gehirn konstruiert, das stärker ist als
     das des Schachgenies. Und das Genie weint wie ein Kind. Die gesamte moderne Wissenschaft ist der Selbstmord des menschlichen
     Verstands. Nein, nicht sein Selbstmord – seine Selbstvernichtung! Künstlicher Verstand, künstliche Zellen … Wozu? Gott hat
     bereits alles erschaffen, lebendig, natürlich, unendlich vielfältig – besser kann man es nicht machen! Der ganze sogenannte
     wissenschaftliche Fortschritt ist eine Entwicklung zurück zur Axt der Kannibalen!
    Na, jetzt übertreibst du aber!« Vera schüttelte den Kopf. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Man kann den wissenschaftlichen
     Fortschritt nicht aufhalten.«
    »Wenn erst identische Bio-Idioten mit Laserpistolen in der Hand im Gleichschritt losmarschieren, dann kommt er ganz von selbst
     zum Stillstand, der wissenschaftliche Fortschritt«, knurrte Tanja.
    Vera hatte den Eindruck, als habe Tanja in den zwei Wochen, seit sie sich das letztemal gesehen hatten, noch mehr abgenommen.
    In der Schule hatten sie beide nur »der Dicke und der Dünne« geheißen, wie bei Tschechow. Sie waren seit der ersten Klasse
     befreundet und in allem grundverschieden. Tanja, eine schlanke, ausdrucksvolle Brünette mit schwarzen Augen im schmalen, feingliedrigen
     Gesicht, galt als schönstes Mädchen der Klasse. Sie war stets die Anführerin, sie hatte einen starken, männlichen Charakter
     und geriet ständig in allemöglichen Konflikte, weil sie immer wieder versuchte, jedem Idioten zu beweisen, daß er ein Idiot war, obgleich sie wußte,
     daß das unsinnig und gefährlich war. Wenn sie etwas anfing, führte sie es zu Ende, egal, was es sie kostete.
    Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr war die Biologie das wichtigste in ihrem Leben.
    »Wenn ich mal heirate«, sagte sie, »dann nur jemanden, der genau so ein Wissenschaftsfanatiker ist wie ich. Jeder normale
     Mann würde mir am zweiten Tag davonlaufen. Aber wahrscheinlich werde ich eine alte Jungfer.«
    Tanja heiratete mit neunzehn. Nikita Loginow, Kernphysiker und zehn Jahre älter als sie, glich auf geradezu lächerliche Weise
     dem zerstreuten Professor aus alten Filmkomödien: zerzauster Haarschopf, starr in die Ferne gerichteter

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