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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Blick, zerknittertes
     Jackett. Dauernd verlor er Brille, Uhr, Handschuhe, Regenschirm und Notizbuch. Bei ihnen zu Hause herrschte stete Unordnung,
     sie ernährten sich von belegten Broten, Tee und Kaffee, lebten aber nun schon seit elf Jahren glücklich zusammen und waren
     ein Herz und eine Seele.
    Tanja arbeitete inzwischen in einem Institut für Mikrobiologie und war ungeachtet ihrer erst dreißig Jahre bereits eine namhafte
     Wissenschaftlerin. Die beiden hatten eine Tochter, Sonja, zehn Jahre alt. Tanjas wissenschaftliche Arbeit nahm faktisch ihre
     gesamte Zeit in Anspruch, und sie hatte permanent ein schlechtes Gewissen, daß ihre Tochter aufwuchs wie Gras auf der Wiese,
     ohne jede Aufsicht.
    »Du bist bloß erschöpft, Tanja. Wann ist deine Verteidigung?« fragte Vera.
    »In vier Wochen. Und übermorgen muß ich nach Helsinki fliegen, zu einer wissenschaftlichen Konferenz. Einen Vortrag halten«,
     erwiderte Tanja düster. »Das Kind tut mir leid. Die Mama Wissenschaftlerin, der Papa Wissenschaftler … Wie Sonja immer sagt:
     Zwei totale Irre. Ich muß nach Helsinki und Nikita nach Armavir, eine Anlage testen. Beidezur selben Zeit, verstehst du? Und meine Schwiegermutter geht ins Krankenhaus zum Durchchecken.«
    Vera begriff, daß die Ursache der Depressionen ihrer Freundin nicht in schöpferischen Problemen und der Sackgasse des wissenschaftlichen
     Fortschritts lag. Tanja erzählte, sie müsse Sonja nun auf die Datscha zu Nikitas Schwester bringen, mit der weder Tanja noch
     Sonja besonders gut auskamen. Das Knäuel der zu erwartenden Probleme anschließend wieder zu lösen würde ein ganzes Jahr dauern.
     Tanja würde sich Klagen anhören müssen, daß ihre Tochter schlecht erzogen sei und daß niemand die Opfer zu würdigen wisse,
     die sie, die arme kranke Lidija Loginowa, für die chaotische Familie ihres Bruders ständig bringe.
    »Laß sie doch bei mir«, schlug Vera vor.
    »Du wirst nicht in Ruhe arbeiten können, sie will sich dauernd unterhalten, kluge Gespräche führen über alles auf der Welt.«
    »Meine Arbeit ist ziemlich mechanisch. Ich übersetze schließlich keine schöngeistige Literatur. Und Mama würde sich auch freuen.«
    »Na, mich mußt du nicht lange überreden. Sonja ginge es bei dir natürlich besser als bei den Verwandten auf der Datscha. Und
     ich wäre auch ruhiger … Aber es ist doch eine Schande, dauernd sein Kind irgendwohin abzuschieben. Wie eine Kuckucksmutter.
     Wenn ich sie mitnehmen könnte nach Helsinki …«
    »Hör auf, Tanja, bring Sonja her, und mach dir keine Gedanken. Ich sage doch, ich tu es gern.«
    In der Schule hatten alle geglaubt, Vera würde einmal eine gute Ehefrau und Mutter, sie würde früh heiraten, und in ihrer
     Wohnung würde es immer nach frischgebackenen Piroggen duften. Hätte sie nicht mit fünfzehn Stas kennengelernt, wäre es vermutlich
     auch so gekommen. Aber es hatte sich anders gefügt, und nun besaß sie mit dreißig ein großes, brachliegendes Potential an
     Zärtlichkeit. Sie konntenicht nur für sich allein leben, sie brauchte jemanden, um den sie sich kümmern, den sie bemuttern und bekochen konnte. Darum
     nahm sie Tanjas Tochter gern hin und wieder zu sich. Auch das Mädchen mochte sie sehr.
    »Aber sei ein bißchen streng mit ihr, laß dir von ihr nicht auf der Nase rumtanzen«, sagte Tanja seufzend.
     
    Besser, ich wäre taub, dachte Wolodja, taub und blind.
    Er war in das halbleere kleine Café nur gegangen, um sich aufzuwärmen und einen Happen zu essen. Doch wie gewohnt lauschte
     er dem Gespräch am Nebentisch.
    »Ach, weißt du, solche Sachen mache ich nicht gern. Wird natürlich besser bezahlt, aber ich hab auch so genug«, sagte ein
     dicker, aufgedunsener Mann um die Vierzig in hellem Jackett und mit einem massiven Goldring am kleinen Finger.
    »Hör mal, Kusja, es ist wirklich wichtig. Für mich persönlich.«
    Ein durchtrainierter junger Mann mit niedriger, pickliger Stirn, ausrasiertem Hinterkopf und großen, hervorquellenden blassen
     Augen flehte seinen Gesprächspartner förmlich an.
    »Wenn kein Kind da wäre, dann würd ich’s sofort machen, keine Frage.« Der Dicke seufzte. »Du kennst mich doch.«
    Vor ihnen auf dem Tisch standen Unmengen Speisen und eine Halbliterflasche Fünfsternekognak.
    »Um das kleine Biest würde ich mich selber kümmern. Es ist wichtig, Kusja. Sonst bin ich im Arsch. Ich hab’s versprochen.«
    Das Gespräch am Nebentisch nahm Wolodja so gefangen, daß er seine bescheidenen

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