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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Jacketts, förderte ein kleines ausländisches Klappmesser mit mehreren Klingen
     zutage und reichte es dem Jungen.
    »Hier, Kleiner.«
    Dieses schöne und praktische Messer war für Skwosnjak viele Jahre eine Art Talisman.
    Mit dem Sänger redete Sachar nicht über Geschäfte. Sie lachten, erzählten sich Witze, und der Sänger warf mit im ganzen Land
     berühmten Namen um sich wie mit Sonnenblumenschalen. Zum Abschied tätschelte er Kolja zärtlich die Wange.
     
    »Ist der Sänger dein Freund?« fragte Kolja anschließend Sachar.
    »Beinahe.«
    »Ist er auch ein Dieb?«
    »Nein. Er ist einer der reichsten Männer in Rußland. Er muß mit den Dieben gut Freund sein.«
    »Und wenn nicht?«
    »Dann wird er arm.«
    »Wieso? Er kann sich doch solide Schlösser einbauen und eine Stahltür.«
    Sachar lachte leise und schüttelte den Kopf.
    »Schlösser kann man aufbrechen, Türen aufsprengen, und überhaupt gibt es allerhand Möglichkeiten … Aber wenn jeder weiß, daß
     er mit mir im Restaurant sitzt, dann läßt man ihn in Ruhe.«
    »Weiß das denn jeder?« fragte Kolja erstaunt.
    »Die es wissen müssen, schon.«
     
    Im Sommer wurden die Heimkinder in ein Ferienlager bei Moskau geschickt. Das Leben dort unterschied sich vom normalen Heimalltag
     nur dadurch, daß sie keinen Unterricht hatten und einen Teil des Tages im Freien verbrachten. Aber sonst – dieselben Kinder,
     dieselben Erzieher.
    Die Gegend war sumpfig, die Mücken waren eine Plage. Wenn es regnete, wußten die Kinder nichts mit sich anzufangen. In Moskau
     hatten sie wenigstens einen Fernseher, hier wurden nicht einmal Kinofilme gezeigt. Lesen waren diese Kinder nicht gewohnt,
     in einem geschlossenen Raum miteinander spielen konnten sie nicht lange. Das endete meist mit Prügeleien und Wutanfällen.
    Hin und wieder baten die Erzieher Skwosnjak um Hilfe. Wenn er wollte, vermochte er einen brüllenden Schlafsaal in drei Minuten
     zu bändigen. Aber er hatte keine Freude daran. Macht über geistig Zurückgebliebene befriedigte seine Eitelkeit nicht mehr.
    Sachar kam einmal in der Woche und brachte ihm frisches Obst vom Markt, aber er hatte es immer eilig. Hier konnten sie nicht
     in Ruhe miteinander reden wie in Moskau. Kolja sehnte das Ende des langweiligen, sinnlos vertanen, verregneten, mückenreichen
     Sommers herbei.
    Anfang September kehrten die Kinder zurück nach Moskau, und Kolja atmete erleichtert auf.
    In den kurzen Herbstferien nahm Sachar ihn mit Einverständnis der Direktorin zu sich. Er wohnte inzwischen woanders, in einer
     separaten Zweizimmerwohnung.
    Manchmal ging er für den ganzen Tag aus dem Haus, zweimal kam er erst gegen Morgen wieder. Er ließ Kolja immer etwas zu essen
     im Kühlschrank, in glänzenden kleinen Töpfen aus einem Restaurant.
    Kolja sah fern oder machte es sich mit den »Drei Musketieren« und dem »Grafen von Monte Christo« auf dem Sofa gemütlich.
    »Man muß seinem Gehirn ständig Nahrung bieten«, sagte Sachar, »sonst verkümmert es. Lies nur, lies die Geschichte von diesem
     Grafen. Da kannst du was lernen.«
    Eines Abends bekam Sachar Besuch. Ein Kleiner, nicht viel größer als Kolja, mit plattem, dunklem Gesicht, kahlgeschorenem
     Kopf und Schlitzaugen, die Kolja von Kopf bis Fuß musterten, als tasteten sie ihn ab, als röntgen sie jeden einzelnen Knochen.
    Und ein Langer, Schmächtiger mit grauem Hängeschnurrbart. Den hatte Kolja schon mal gesehen, im Restaurant. An der rechten
     Hand fehlten ihm zwei Finger – Ringfinger und kleiner Finger waren nur kurze Stummel.
    »Du bleibst nicht hier«, sagte Sachar finster, »geh schlafen. Es ist schon spät.«
    Das geschah zum erstenmal. Normalerweise durfte er bei Erwachsenengesprächen dabeisein, mußte sich nur still verhalten und
     durfte sich nicht einmischen. Nun aber schickte Sachar ihn ins Bett.
    Na schön, ging er eben schlafen. Doch die Plattenbauwände waren dünn, und die Liege stand direkt an der Wand zur Küche. Man
     bekam alles mit, mußte nicht einmal das Ohr an die Wand legen. Kolja wusch sich rasch, putzte sich die Zähne und huschte ins
     Zimmer. Ein Stück vom Gespräch hatte er natürlich schon verpaßt. Nun hörte er Sachar sagen: »Nein, ich bleibe dabei. Er sitzt
     eh schon im Knast, von Geburt an. Und hat seinen Paragraphen weg fürs ganze Leben.«
    »Das läßt sich ändern.« Die hohe Stimme mit dem leichten Akzent gehörte dem Schlitzäugigen.
    »Aber wozu denn?« Der Fingerlose lispelte ein wenig. »Wo findet man schon so einen

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