Keiner wird weinen
gesund
und verständig. Die Jahre verflogen unbemerkt. Doch dann stürzte in einem einzigen Augenblick alles ein, zusammen mit der
Berliner Mauer. Sie mußten zurück nach Moskau. Wladimir bekam Probleme mit der Arbeit. Das Geld reichte plötzlich hinten und
vorn nicht. Doch das schlimmste – Oberst Kurbatow fand sich in dem neuenWertesystem nicht zurecht. Die Organisation, der er sein Leben und sein Herz geweiht hatte, bezeichnete man nun öffentlich
als Henkersbande, die Medien tönten von den »Kerkern der Lubjanka«, frühere Feinde der Sowjetmacht wurden zu Helden und Märtyrern
erklärt. Das heilige Wort »Tschekist« wurde zum Schimpfwort. Seine Söhne, beide Studenten, verschlangen die Bücher von Solshenizyn,
Sacharow und anderen ideologischen Gegnern. Wenn er ihnen die scheußlichen, verleumderischen Schmähschriften aus der Hand
riß, lachten sie herablassend und redeten ihm zu, er solle sich nicht aufregen.
Wladimir Kurbatow war in gewissem Sinne ein zutiefst religiöser Mensch. Sein Gott war von Kindheit an die Sowjetmacht gewesen.
In der Nacht, als die triumphierende Menge das Denkmal des großen Tschekisten Felix Dzierżyński vom Sockel stürzte, betrank
sich der Oberst zum erstenmal im Leben bis zur Bewußtlosigkeit, und gegen Morgen jagte er sich eine Kugel in den Kopf.
Xenia glaubte damals, sie würde den Selbstmord ihres Mannes nicht überleben. Auch für sie war die Welt zusammengebrochen.
Doch allmählich wurde sie damit fertig, das Leben mußte weitergehen. Und dafür brauchte sie Geld. Sie erinnerte sich an ihr
Klavier, telefonierte unter ihren ehemaligen Kommilitonen herum und fand mit deren Hilfe eine Stelle als Musiklehrerin in
einem privaten Gymnasium.
Nach und nach lief das Leben wieder in geregelten Bahnen, wenn auch nicht mehr so satt, ruhig und gutsituiert wie zuvor.
Xenia war immer wieder verblüfft, wie sehr sich die Zeiten gewandelt hatten. Beide Söhne pfiffen auf ihren elitären Diplomaten-Abschluß
und widmeten sich zweifelhaften Geschäften. Das hatte ihr zwar stets ernsthafte Sorgen bereitet, doch auf ein weiteres Unglück
in ihrer Familie war sie nicht gefaßt gewesen.
»Komm, Mama, ich bring dich ins Bett. Du mußt schlafen«, hörte sie ihren älteren Sohn sagen.
Er hatte erreicht, daß sie den ganzen Teller Bouillon aß, und hielt ihr nun zwei kleine Tabletten hin.
»Hier, nimm das bitte, das ist Seduxen.«
Folgsam spülte sie die Tabletten mit kaltem Tee hinunter, sah Anton mit leeren, abwesenden Augen an und fragte: »Warum hast
du das getan? Warum hast du Denis verbrennen lassen?«
Anton schwieg. Er hakte sie unter und führte sie ins Zimmer.
»Zieh dich aus und leg dich hin. Wir müssen morgen früh aufstehen.«
Als sie im Bett lag, schloß er leise die Tür hinter sich, setzte sich in die Küche, zündete sich eine Zigarette an und bemerkte,
daß seine Hände zitterten.
»Ich muß Mama einem guten Psychiater vorstellen«, sagte er flüsternd zu sich selbst. »Sobald das alles vorbei ist, kümmere
ich mich um einen anständigen Spezialisten.«
Zehntes Kapitel
Sachar kam jede Woche, holte Kolja ab und nahm ihn mit in die Stadt. Die erste Zeit gingen sie zusammen ins Kino, später,
als es wärmer wurde und nach Frühling roch, unternahmen sie lange Spaziergänge und aßen in Restaurants. Manchmal trafen sie
dort Bekannte von Sachar, mit Tätowierungen auf den Armen und Goldzähnen. Hin und wieder waren auch Frauen dabei, die Kolja
unglaublich schön vorkamen. Sie trugen nur ausländische Sachen, in ihren Ohren und an den Fingern funkelten Edelsteine.
Die Gespräche waren für Kolja meist unverständlich. Sachar sprach mit jedem anders. Mit dem einen kurz und abgehackt, als
erteile er ihm Befehle. Andere verhöhnteer, quasi im stillen. Sein Gegenüber merkte es nicht, Kolja jedoch spürte es immer.
Nur einen einzigen Menschen behandelte er wie seinesgleichen.
Als sie eines Tages ins Restaurant »Praga« kamen, entdeckte Kolja an einem hinteren Tisch einen populären Sänger, den er aus
dem Fernsehen kannte. Er trat bei diversen Feiertagskonzerten auf und sang Lieder über die Partei, über Lenin und anderen
ideologischen Schmus. Seine Stimme tönte dauernd aus dem Radio, auch im Heim kannte ihn jeder, selbst der letzte Debile.
Sachar durchquerte den Saal und umarmte den Sänger wie einen alten Freund. Der Sänger lächelte Kolja freundlich an, drückte
ihm die Hand, kramte in den Taschen seines teuren
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