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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Schwanz,
     bellte ein paarmal kurz und schaute Vera mit großen, tieftraurigen braunen Augen an.
    Vera kroch fröstelnd unter der warmen Decke hervor und ging zum Schreibtisch.
    »Na, was haben wir denn da Schönes gekriegt?« murmelte sie und blätterte die Faxseiten durch, die in der Nacht angekommen
     waren.
    Es waren meist lange, kleingedruckte Texte in englisch und französisch.
    »Aha, wieder was über Meeressäuger, etwas über die Fauna des Eismeeres, ein Aufruf zum Schutz von Walbabys, noch ein Aufruf«,
     murmelte Vera vor sich hin, wobei sie sich dieSeiten dicht vor die Augen hielt. »Aber das hier ist totaler Quatsch. Mein Gott, was ist denn das für eine Sprache?«
    Ein Blatt mit zwei Zeilen handgeschriebenen Textes in großen Buchstaben in der Hand, suchte Vera nach ihrer Brille. Auf dem
     Tisch lag sie nicht, auch nicht auf dem Nachttisch am Bett.
    »Matwej, komm, hilf mir«, wandte sie sich an den Hund, »such, Matwej, such!«
    Der Hund lief geschäftig in den Flur und kam kurz darauf mit einer weißen Socke in der Schnauze zurück.
    »Nein, Matwej«, seufzte Vera. »nicht das. Die Brille!«
    Sie tapste barfuß in die Küche, dann ins Bad.
    Matwej rannte indessen wieder in den Flur, kam zurück, legte Vera seine Vorderpfoten auf die Schultern und hielt ihr einen
     alten Turnschuh unter die Nase.
    Das Telefon klingelte.
    »Ist da die Firma Star-Service?«
    »Falsch verbunden«, brummte Vera, legte auf und entdeckte endlich ihre Brille – auf dem Telefontischchen im Flur.
    »Ich glaube, das ist Polnisch«, sagte sie nachdenklich, während sie die lateinischen Buchstaben studierte, »oder Tschechisch.
     Karlštejn … Klingt deutsch. Aber das liegt nicht in Deutschland. Ist das nicht eine kleine Stadt bei Prag?«
    Das Telefon klingelte erneut.
    »Könnte ich bitte Anton sprechen?« Diesmal war es eine Frauenstimme.
    »Sie sind falsch verbunden.« Vera wollte schon auflegen, als die Stimme fragte: »Ist da die Firma Star-Service«?
    »Junge Frau, hier ist keine Firma. Bitte streichen Sie die Nummer aus Ihrem Telefonbuch, und rufen Sie hier nicht mehr an.«
    Diese albernen Anrufe nervten Vera und ihre Mutter schon seit drei Tagen. Man hatte ihnen urplötzlich eine neueTelefonnummer zugeteilt, und nun klingelte unentwegt das Telefon, ob um Mitternacht oder früh um fünf.
    Kurz zuvor hatte Vera Saltykowa einen Übersetzungsauftrag bekommen. Drei Monate hatte sie ohne Arbeit dagesessen, dann rief
     vor einer Woche eine Freundin an und sagte, Greenpeace werde in Moskau eine Konferenz zu globalen Fragen des Umweltschutzes
     abhalten. Dafür würden Übersetzer für Englisch und Französisch gesucht. Vor Beginn der Konferenz müsse eine Menge Informationsmaterial
     übersetzt werden, das per Fax aus der ganzen Welt eingehen würde, anschließend folgten zehn Tage Simultandolmetschen, zwölf
     Stunden am Tag. Gezahlt werden sollte nach international üblichen Tarifen, sie könne also anständiges Geld verdienen.
    Vera hatte natürlich eingewilligt und den Vertrag unterschrieben. Gestern vormittag war bei ihr zu Hause das Faxgerät installiert
     worden. Die angekündigten Texte gingen in großer Zahl ein. Hin und wieder fanden sich zwischen flammenden Aufrufen zum Schutz
     der Meeressäuger, der Reinheit der Gewässer von Arktis und Antarktis Texte in russisch über Kredite, Verträge und Immobilienpreise,
     adressiert an die bewußte Firma Star-Service, deren Namen Vera und ihre Mutter schon nicht mehr hören konnten. Vermutlich
     hatte Star-Service pleite gemacht, und nun versteckten sich die einstigen Inhaber vor ihren aufdringlichen Gläubigern.
    Noch immer das Blatt mit dem merkwürdigen polnischen oder tschechischen handgeschriebenen Text ohne Anrede und Adresse in
     der Hand, ging Vera ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser war nicht heiß, sondern eiskalt. Natürlich, heute morgen
     war für anderthalb Monate das warme Wasser abgestellt worden! Wie dumm von ihr – warum hatte sie sich nicht gestern die Haare
     gewaschen? Na schön, mußte sie eben auf dem Herd Wasser heiß machen.
    Vera gähnte herzhaft, warf das Fax auf den Küchentisch und zündete zwei Gasflammen an. Während das Wasser warm wurde, setzte
     sie sich aufs Küchensofa und las zerstreut noch einmal die lateinischen Buchstaben des rätselhaften Faxes. Sie hatte sich
     mal für Graphologie interessiert. Sie begriff nicht gleich, warum sie die großen lateinischen Buchstaben so aufmerksam betrachtete,
     doch dann wurde ihr klar:

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