Keiner wird weinen
Der Schreiber war sehr aufgeregt gewesen. Seine Hand hatte gezittert, aber die Schrift deutete nicht
auf einen Alkoholiker oder Kranken. Der Absender war sehr nervös gewesen und in Eile, hatte sich aber trotzdem bemüht, jeden
Buchstaben möglichst sorgfältig zu schreiben – es war ihm wichtig, verstanden zu werden.
Der Inhalt des Textes war nicht schwer zu verstehen: »Karlštejn, Mložek-Straße 37, zweiter Stock. Mokka. Türkei. Brunhilde.«
Karlštejn war eine kleine Stadt bei Prag. Vera hatte vor fünf Jahren mit ihrer Mutter eine Reise nach Tschechien gemacht.
Aber was bedeutete »Mokka«? Kaffee? Ein Spitzname vielleicht? Warum kein Name, nur eine Adresse? Und wieso »Türkei« und »Brunhilde«?
Brunhilde war eine Gestalt aus einem germanischen Heldenepos. Das war entweder ein Spiel oder eine Spionagechiffre. Aber Spione
übermittelten ihre Informationen irgendwie anders …
Vera erinnerte sich gut an das gemütliche Karlštejn. Dort gab es nur kleine Häuser mit meist ein, zwei Etagen. Ihre Touristengruppe
hatte ein Schloß aus dem vierzehnten Jahrhundert mit einer weltberühmten Sammlung gotischer Malerei und Ritterwaffen besichtigt.
Das Wasser in den beiden großen Töpfen wollte und wollte nicht kochen. Um keine Zeit zu verlieren, setzte sich Vera im Nachthemd
an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein und wollte sich an ihre Übersetzung machen, als erneut das Telefon klingelte.
»Ja«, bellte sie in den Hörer.
»Guten Morgen, liebe Vera …«
Beim Klang dieses Baritons zuckte Veras Herz zusammen.
»Guten Tag, Stas«, sagte sie so ruhig wie möglich.
»Wie geht’s? Was macht Mama?« fragte der Bariton hastig.
»Danke, gut.« Vera bemühte sich, möglichst frostig zu klingen, aber ihre Stimme zitterte verräterisch.
»Hättest du vielleicht ein paar Stunden Zeit für mich?«
»Nein, entschuldige, ich habe sehr viel zu tun.«
Vera dachte, daß sie sofort auflegen sollte, das sollte sie überhaupt jedesmal tun, wenn sie diesen angenehmen Bariton vernahm.
Oder noch besser, sie sagte: »Stas Selinski, sei so gut und ruf mich nie mehr an.«
Aber sie hatte ihn ja vorgestern selbst angerufen und ihm ihre neue Telefonnummer auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie
selbst!
»Wenigstens ein Stündchen. Ich komme, wann immer es dir paßt, Vera, bitte, hilf mir noch ein letztes Mal, ich bitte dich.
Du weißt doch …«
Sie wußte: Sie sollte wieder etwas für ihn übersetzen, ihm ein paar Seiten albernen Text auf französisch oder englisch schreiben,
im Ausland anrufen oder mit irgendeinem Finnen über die Lieferung einer Partie Papier verhandeln. Stets wollte er etwas in
der Art von ihr, und er genierte sich kein bißchen.
»Wann legst du dir endlich eine Sekretärin zu oder heiratest eine Frau, die wenigstens eine Fremdsprache beherrscht?« fragte
Vera leise.
»Nicht böse sein, Vera, mein Sonnenschein, du bist doch ein kluges Mädchen, und überhaupt, ich hab solche Sehnsucht nach dir.«
»Ich habe viel zu tun. Ich kann nicht.« Ihre Stimme zitterte, sie blickte in den Spiegel über dem Telefontischchen und sah,
daß ihre Wangen glühten.
Du dumme Pute, alte Memme! beschimpfte sie im stillen ihr struppiges, ungewaschenes Spiegelbild. Hast du denn keinen Funken
Würde im Leib?
»In einer Stunde. Nein, in zwei Stunden«, sagte sie hastig und blickte ihrem Spiegelbild haßerfüllt in die Augen.
Sie legte auf, lief in die Küche, schaltete das Gas unter den beiden Töpfen ab, in denen inzwischen das Wasser kochte, und
rannte ins Bad, wobei sie sich mit dem überschwappenden heißen Wasser beinahe die Beine verbrühte.
Sich, in der kalten Wanne hockend, mit warmem Wasser aus einer Schöpfkelle zu waschen ist sehr unbequem. Im Flur klingelte
schon wieder das Telefon, Vera bekam Shampoo in die Augen, Matwej kratzte mit der Pfote an der Tür und jaulte klagend. Im
Hof schoß jemand Feuerwerkskörper ab. Der Hund hatte panische Angst vor dieser Knallerei und versteckte sich immer im Bad,
das für ihn offenbar eine Art Luftschutzraum war.
Vor Kälte bibbernd, wickelte sich Vera in ihren Frotteebademantel und öffnete die Tür. Draußen knallte es erneut. Der Hund
stürmte erschrocken ins Bad und kippte den Plastikeimer mit dem restlichen warmen Wasser um.
Das wird ein schlimmer Tag, dachte Vera, während sie das Wasser aufwischte, und überhaupt steht alles bei mir schlimm. Ich
werde demnächst dreißig. Ich habe keinen Mann, keine Kinder, keine
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