Keinmaerchen
begehbaren Morast. Und immer noch schweigen die Rhithiau.
Schritt für Schritt, weiter hinab in die Tiefen des Bergwesens.
Und weiter und weiter.
Bis zu einer Gabelung. Was tut die Alte hier? Was versperrt sie den Zugang mit ihren Krücken? Bist du von Sinnen, altes Weib? Mit einem Hieb meiner Krallen könnte ich dein dürres Fleisch in den Gängen verteilen und niemand würde sich darum scheren, wenn es im Matsch versinkt und Teil des Weges wird.
Kehr um.
Tritt zur Seite, Närrin.
Ihre Haut schimmert wie die Berge meiner Heimat, rau wie der Wüstensand und ebenso warm. Die Stundengläser in dem Kasten, den sie fest auf ihrem Schoße hält, sind Stundengläser meines Volkes und mir bekannt wie meine Haut. Es sind die Sanduhren meiner Brüder, die nicht aus den Schatten zurückkehrten. Unverkennbar.
Gib sie mir, ich bringe sie heim zum Fuß der Purpurberge und streue den Sand zurück in das Meer aus dem er stammt.
Nimm deine Krallen weg, Alb, wenn du etwas willst, musst du etwas dafür geben.
Was könnte ein altes Weib schon fordern? Mein Lachen hallt durch die Gänge, bricht sich an den Felsen und kehrt vervielfacht zu mir zurück. Ich packe ihre Kehle mit einer Hand, presse sie an den Felsen in ihrem Rücken. Sie wehrt sich nicht. Ihre Augen treten aus den Höhlen und plötzlich sehe ich das Kind, gefangen in ihrem vergreisten Körper, eingeschlossen in senilem Fleisch und entkräfteten Muskeln. Es ist schön, unschuldig. Menschlich. Meine Krallen graben sich tief in sein zartes Fleisch, kühles ranziges Blut rinnt meinen Arm hinab. Der greise Körper gewinnt an Spannung, die Haut glättet sich, das Haar gewinnt seine Farbe zurück, die Alte wird zu dem Kind, das in ihr steckte. Nur ihre Augen verändern sich nicht. Von Furcht geprägte Jahre und Jahre spiegeln sich in den Pupillen, bis sie mit einem letzten verhaltenen Flackern erlöschen.
Ich sammle die Sanduhren meiner Brüder aus dem Morast. Dante, Thalos, ich kann euch vor mir sehen, stark und stolz und ungebrochen.
Trug! Verdammter Trug! Meine Handflächen brennen von den Stichen der Höhlenkäfer, die sich in meinem Fleisch verbeißen und die Haut von meinen Händen fressen. Ich spucke auf ihre zappelnden Körper, bis sie sich winden und zerplatzen.
Und wieder wähle ich den dunkelsten Weg, weiter und immer weiter hinab ins Innere des Berges. Es riecht nach Tod. Die Luft ist verbraucht und lässt sich nur widerwillig einatmen. Die Rhithiau werden aufdringlicher, sie wagen sich aus den Schatten heraus und umgarnen mich, locken mich mit Bildern, die tief in meinem Unterbewusstsein gespeichert sind.
Anaximandros liest aus den Totenbüchern, zählt die Namen unserer verlorenen Brüder auf. Nimm sie an dich. Nimm die Bücher und nutze sie. Lug. Anaximandros ist tot, genau wie Thalos. Ich erwarte dich im Schatten der Schmetterlingsbäume, wenn die zweifarbige Sonne zu sinken beginnt. Trug. Das ist bereits Vergangenheit, liegt lange schon zurück.
Thalos, Bruder, Gefährte, ich wünschte, ich könnte den fließenden Sand stoppen und zurückzwingen, aber ich kann es nicht. Ich kann nicht. Ich darf nicht einmal daran denken. Du bist nicht wirklich, auch wenn mein Herz mich machtvoll zu dir zieht. Du kannst es, du kannst ungeschehen machen, was uns trennte, es liegt in deiner Macht, Zeit und Sand zu gebieten. Schweig! Erinnerst du dich nicht, wohin es führt, entgegen seiner Bestimmung zu handeln? Erinnerst du dich nicht an unseren Bruder?
Jüngster Bruder, törichter Sohn. Was mag aus ihm geworden sein? Fehlgeleitet und verirrt in Träumen, die nicht unsere sind. Doch es war nicht sein Verschulden, sondern das meine. Das unsere. Wir hätten ihn nicht zeugen dürfen, im Angesicht der sinkenden Sonne. Es war noch nicht an der Zeit, aber ich war ungeduldig, begierig, den Zyklus zu vollenden und den letzten der Brüder an meiner Seite zu wissen. Doch was habe ich vollbracht? Die Sieben sind auseinandergestoben wie trockenes Blattwerk, in den Schatten verschollen, in den Traumländern vergessen. Nichts als Wut und Hass ist mir geblieben und der Name meines einzigen Sohnes. Conchúbar.
Könnte ich doch nur die Augen schließen. Könnte ich den Blick von seinen Zügen wenden. Sein Antlitz scheint so wirklich, seine Hände kraftvoll und zugleich zart, seine Stimme lockend wie warme Aufwinde im Frühjahr. Ich darf mich nicht narren lassen! Ich muss … Oder ist er doch … Nein! Stinkendes Trugbild! Trau deinen Augen, Bruder. Sie haben dich noch niemals
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