Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
Vom Netzwerk:
treffen; es ist an mir, das Unmögliche zu wagen; es ist an mir, zu triumphieren oder bei dem Versuch zu sterben. Aber es gibt keinen Tod, nicht für den Mutigen, nur bestehen oder versagen.
     
    #
    Ich hätte den Weg durch die Schatten wählen sollen, aber niemals wieder will ich einen Fuß auf die verbrannte Erde des Schattenreichs setzen, nie mehr die Leere spüren, nie mehr will ich mich im Zwielicht verlieren – selbst nur mehr ein Schatten. Lieber überfliege ich die stinkenden Menschensiedlungen, ertrage den Geruch von Unrat und Fäulnis. Die Ausdünstungen ihrer garstigen Leiber machen mich würgen. Es sind so viele. So viele. Ihr Gestank klebt an mir, beißt sich wie Zecken in meiner Haut fest.
    Hinter den beiden Türmen beginnt das Grasland, danach folgen die grauen Berge, auf deren höchstem Gipfel sich der Eingang zum Zwischenreich befindet, so hat Anaximandros es erzählt, als ich als Halbwüchsiger an seinen Lippen hing, gebannt den Dichtungen und Legenden lauschte.
    Zwischenreich. Hort unvollendeter Gedanken, unausgesprochener Wünsche, begonnener und niemals fortgesetzter Wege, Sammelstelle für Weggeworfenes, Obdach für alles, was nichts sehnlicher wünscht als zu sein und doch niemals sein wird. Ein Ort voller Gefahren.
    Hüte dich vor den Rhithiau, ihr einziger Sinn liegt im Wollen begründet. Wenn du dich in die Zwischenwelt wagst, bist du alles, was sie sich erträumt haben, alles, wonach sie sich sehnen: Vollendung.
    Ich weiß, mein Vater. Jeder Wunsch, jedes Hirngespinst will nichts mehr, als vollendet werden. Aber nicht von mir. Ich bin stark, stärker als die Trugbilder, mein Zorn lässt mich das Ziel nicht aus den Augen verlieren.
    Die Sonne sinkt, doch ich kann bereits die Berge sehen, in wenigen Flügelschlägen schon werde ich wissen, ob die Legenden meines Vaters nur Legenden waren.
     
    #
    Der höchste Gipfel, doch selbst in dieser Höhe ist die Luft nicht klar. Und etwas Schweres drückt auf mein Gemüt, etwas, das tief unter dem Neuschnee liegt und wartet, viel zu lange schon wartet. Ich spüre seinen Hunger, mit glitschigen Tentakeln greift es nach mir, sein unstillbares Verlangen nach Vollständigkeit ist dinglich wie die traurigen Blüten des Fingerkrauts, die sich dem Druck meiner Schritte beugen.
    Der Berg öffnet mir seinen Schoß, spreizt sich willig, begierig, mich in sich aufzunehmen und seine Schenkel um meinen Leib zu pressen, bis ich willenlos in ihm versinke.
    Ich versinke in ihm, aber nicht willenlos, ich bin Herr meiner Sinne, Herr meiner Taten, und ich werde der Rhithiau Herr werden, so wahr ich meinen Weg bis zum Ende gehen werde. Kein Trugbild wird mich narren, kein Hirngespinst wird sich in meinem Geist einnisten und ihn vergiften.
    Dunkelheit. Am Anfang herrscht immer Dunkelheit. Doch meine Augen sind Düsternis gewohnt, zu lange mussten sie die Schatten durchblicken, sie passen sich den Gegebenheiten an, fangen den kleinsten Flecken Licht und wissen ihn zu nutzen.
    Es ist still im Schoß des Berges, kein Geräusch, außer dem Rieseln des Wassers, das an den Wänden hinabrinnt und sich in einem See in der Mitte der Höhle sammelt, die sich düster vor mir auftut und doch nur die Pforte in etwas Dunkleres ist.
    Drei Wege führen ins Innere des Berges hinein, tief und tiefer hinab in seinen Magen und sein Gedärm. Ich wähle den Dunkelsten, den, der in der Farbe des Blutes schimmert, das sich zur Nacht über die zerrissenen Körper meine Feinde ergießen wird. Selbst die verbrauchte Luft, die mir entgegenschlägt, riecht nach Blut. Das ist der richtige Weg, mein Blutweg.
    Die Stille lastet auf meinen Schritten und wird mit jedem weiteren bleierner. Ich kann keinen Steinwurf weit sehen. Wo sind sie? Warum lassen sie mich unbehelligt meines Weges gehen? Sie wollen mich in Sicherheit wiegen, auf dass meine Sinne die Schärfe verlieren, aber ich bin auf der Hut, ich spüre ihre Anwesenheit, auch wenn sie sich im Dunkel verbergen. Wie könnte ich sie nicht spüren? Ihr ungestilltes Sehnen haftet an jedem Felsvorsprung, jedem Stein, belegt die Wände mit einem schleimigen Überzug, der so alt und leibhaftig ist, dass er ein Teil des Berges wurde. Der Berg atmet, er dürstet und giert, in seinem steinernen Fleisch spannen sich Sehnen und Muskeln, pumpt ein schwarzes Herz die Säfte durch poröse Adern. Blut und Schweiß und Tränen netzen die Wände, bilden Stalaktiten an der Höhlendecke und tropfen warm und klebrig auf mich herab, machen den Boden zu einem kaum

Weitere Kostenlose Bücher