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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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getäuscht, das weiß ich und auch du weißt es. Du weißt, was du siehst. Lass mich! Fahr zurück in den stinkenden Tümpel aus ausgespuckten und längst verwesten Gedanken, aus dem du gekrochen kamst. Du kannst mich nicht aufhalten!
    Sein Lachen. Anaximandros, hörst du sein Lachen? Wie der sonore Singsang der Trompetenfalter. Du bist töricht, Bruder, es ist an dir, der Zeit zu gebieten, es ist an dir, die Räder zurückzudrehen, komm, komm zurück zu mir. Zurück …
    Er lacht nicht mehr. Er lockt nicht mehr. Also sind sie sterblich, wenn sie Gestalt annehmen. Es schmerzt mich, das Leben aus Thalos' Blicken weichen zu sehen, es schmerzt mich, weil er in Wahrheit allein starb, ohne Trost, ohne jemanden, der seine Seele zurückführte zu den Purpurbergen, aus der sie entsprang. Diese Kreatur stirbt Thalos' Tod zum zweiten Mal, stirbt ihn in meinen Armen, so wie er hätte sterben sollen. Es tut mir leid, Gefährte, es tut mir leid.
    Sein Kopf schwillt an, die Haut wird brüchig wie Pergament, die Rhithiau drängt an die Oberfläche, versucht den Körper abzuschütteln, in dem ihre widerliche Aura liegt wie in einer Urne. Aber es sollen nicht ihre Züge sein, in die ich blicke, es ist mein Bruder, dem ich das letzte Geleit erweise. Es sind meine Hände, die seine Kehle herausreißen, meine Hände, die von seinem Blut getränkt erstarken. Schlaf, Gefährte, schlaf, bis der Tag kommt, an dem deine Seele einen neuen Platz findet. Wenn die Zeit es will, vielleicht in einem meiner Söhne. Die Zeit. Verdammtes Dunkel, verdammte Chimären, ich muss die Sanduhr drehen, muss meine Sinne klären.
    Stille.
    Wo sind sie? Ich kann die Rhithiau nicht mehr spüren. Anaximandros' Stimme schweigt, das stete Summen ihrer Gier ist erloschen, ihr Begehren hallt nicht mehr von den Höhlenwänden wider. Aber da ist etwas anderes. Etwas, das mir bekannt ist, wie meine Flügelspitzen, etwas, das viel zu lange auf meinen Schultern lastete und ein Netz aus Narben über meine Seele spannte. Furcht.
    Jetzt ist es mein Lachen, das durch die Gänge hallt, bis tief hinab ins Innere des Bergwesens. Hat euch noch niemand bezwungen? Hat euch noch niemand gezeigt, dass auch ihr sterblich seid?
    Ich lache, bis mir die Tränen über die Wangen rinnen. Lache über die Einfältigkeit der Trugbilder, beweine meinen Gefährten. Meine Schritte sind ausladend und klingen wie Trommelschläge nach. Die Furcht der Rhithiau geleitet mich zum Ausgang, verlässt mich aufatmend und seufzend, als sich ein Lichtschimmer durch einen Spalt in der Bergwand zwängt und auf meine Füße fällt. Frischluft! Ich suche nicht nach einem größeren Durchgang, greife in den Spalt und reiße die steinerne Haut herunter, das erdige Fleisch, jahrtausendalte Falten glätten sich, als meine Füße sie zerstampfen, als wären es getrocknete Schmetterlingsblätter. Und dann trete ich hinaus in die mondhelle Nacht.
    Aber das ist nicht die Menschenwelt. Und auch nicht unsere. Schattenreich. Meine blutverkrusteten Krallen schlagen sich von selbst ins Fleisch meiner Arme. Schattenreich, nie wieder wollte ich den dunklen Mond sehen, nie wieder die graue, aufgedunsene Luft atmen. Immer auf der Hut, immer damit rechnend, in einen der Risse zu stürzen und zu verbrennen.
    Natürlich ist die Spalte verschlossen. Ich kann nicht zurück. Das war nicht der Ausgang. Ein weiterer Trug, eine boshafte List. Ich bin der einfältigste Alb, der je am Fuße der Purpurberge geschlüpft ist. Sie haben mich besiegt. Sie haben mich mit meinem eigenen Hochmut geschlagen.

Dr. Stein
    3.45 Uhr. Probandin 89 ist vollständig auf die andere Seite gewechselt. Ich habe es schon unzählige Male gesehen und doch fiel es mir schwer, meinen Augen zu trauen. Ich lese ihre Akte, um mich zu vergewissern, dass sie existiert hat. Ich weiß, dass sie existiert hat, aber mein Gehirn weigert sich, die Tatsachen anzuerkennen.
    Warum fällt es uns so schwer, zu glauben? Unseren Sinnen zu vertrauen? Sind die Sonne, der Mond, die Sterne nur wirklich, weil ihre Existenz wissenschaftlich bewiesen wurde? Zählen wirklich nur Fakten, Formeln, Ergebnisse? Vielleicht ist unsere Welt deshalb so arm an Liebe und Mitgefühl. Vielleicht mangelt es mir selbst deshalb daran. Die Erkenntnis schmerzt. Mein ganzes Leben habe ich darauf verwendet zu beweisen, dass das Nichtbeweisbare existiert, nur um am Ende festzustellen, dass es sinnlos war. Sinnlos und unbedeutend. Die andere Seite interessiert nicht, was wir glauben. Sie ist einfach.
    Jetzt

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