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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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zwischen den kalten Türmen. Bald schon geht die Sonne auf, die Farben beginnen sich bereits zu verändern. Und doch scheint alles von einem dunstigen Schleier umgeben zu sein. Matt und verblasst und kraftlos. Viel zu lang ist es her, dass ich die zweifarbige Sonne über den Purpurbergen aufgehen sah, die klare Luft unter meinen Schwingen über die Gipfel stieg, hoch und immer höher hinaus, bis ich an die Grenzen des Himmels stieß.
    Ich kann mich kaum noch an den Geruch des Sandes erinnern, den Gesang der Schmetterlingsbäume, wenn sie kurz vor Sonnenuntergang die Blüten öffnen und die Dunkelheit mit vielfarbigen Tönen durchbrechen. Aber ich werde es sehen und riechen und mich in die Luftschichten stürzen, bis Szandor selbst mich zur Mäßigung mahnt. Und dann werde ich all den Schmutz im klaren Wasser des Altopai von meinen Flügeln waschen, das Blut und die Furcht von meinen Krallen, und niemals wieder an die Menschen denken. Bald, bald schon kehre ich heim.
    Das Sonnenlicht der Menschenwelt scheint kraftlos und jämmerlich, so wie sie es verdienen. Mit einem Flügelschlag könnte ich tausend von ihnen durch die Gassen treiben. Ich könnte sie an den Häuserwänden zerplatzen lassen wie Hornkäfer. Doch ich darf nicht den Fehler begehen, zu früh und zu unbedacht zu handeln. Zuerst muss ich mein Volk einen. Oder das, was von ihm übrig geblieben ist.
    Ich wünschte, Anaximandros stünde mir zur Seite. Aber er ist nicht zurückgekehrt aus dem Schattenreich, genau wie Dante und Thalos, und mir ist, als wäre ein Teil von mir ebenfalls dort geblieben. So sind wir nur noch drei. Drei der einstmals stolzen Sieben. Fenriz und Lucifer drehen die Räder, die Zeit ist auf unserer Seite. Meine Brüder sind stärker als je zuvor, auch sie treibt der Zorn voran. Zorn. Feuerrot und heiß und nur mit Blut zu löschen. Mit Menschenblut.
    Sieben Brüder sollten dem Lauf der Zeiten gebieten, so war es bestimmt, so sollte es sein. Fatum. Noch drei Monde und es wäre vollendet gewesen. Drei Monde nur.
    Und immer noch verrinnt der Sand, in meines Vaters Sanduhr, verrinnt und bildet sanfte Dünen, die zu einem Berg anwachsen. Was geschähe, wenn ich das Stundenglas nicht mehr drehte? Was? Ich werde es drehen, immer und immer wieder, so wie meine Brüder die Räder drehen. Alles ist Drehen und Verrinnen und Anhäufen und Drehen. So war es immer und so wird es immer sein.
    Eine Menschenwoche ist vergangen. Ihre Zeit verrinnt so schnell und bedeutet doch nicht mehr, als das Sandkorn auf dem Grund des immer fließenden Meeres. Es verrinnt und wird zurückgeführt zum Anfang.
    Immer mehr meiner Gefährten kehren aus den Schatten zurück. Sie werden meinem Ruf folgen, wenn die Zeit gekommen ist, aber unsere Zahl ist noch zu gering, um die Stürme anbrechen zu lassen. Anaximandros, mein Bruder, mein Vater, hätte ich nur deine Macht, die Entseelten aus den Untiefen der Ewigkeiten zu rufen, das Warten hätte hier und jetzt ein Ende.
    Ich will meinen Zorn bündeln und emporbringen, auf dass er die Lüfte bis an ihre Grenzen füllt, und dann will ich selbst zu reinem Zorn werden.
    Geduld gehörte noch nie zu meinen Stärken, das Warten zerfrisst mich, gießt Öl in die Feuer meines Zorns.
    Hätte ich nur Anaximandros‘ Totenbücher, ich könnte ein Heer herbeirufen, das die Menschenwelt binnen Stunden in ein Blutmeer verwandelte. Oder ich wagte selbst die Reise zum Seelenbecken und fischte die Krieger aus dem Kabut. Kabut, klebriger Nebel, der die Unwürdigen an der Rückkehr zu den Bergen ihres Ursprungs hindert und für alle Ewigkeiten bindet, es sei denn … Rechtfertigen die Umstände ein solches Unterfangen? Wäre ich in der Lage, sie ohne Anaximandros‘ Hilfe zurückzuschicken? Mein Bruder könnte es, er hat es schon einmal getan, doch was war sein Lohn? Verbannung ins Schattenreich. Ich sollte es wagen, ich sollte die Entseelten ihr Werk vollenden lassen, aber kann ich es ohne Hilfe bewerkstelligen? Fenriz ist unabkömmlich und Lucifer ist schwach, er findet selbst in den leeren Hülsen der Menschen noch Gutes. Es ist an mir, an mir allein. Also soll es geschehen.
    Ich nehme nichts mit, so wie es geschrieben steht. Falls ich nicht zurückkehre, wird Fenriz unser Volk in die Schlacht führen. Und es wird die letzte Schlacht sein, die wir schlagen werden. So oder so. Lucifer zweifelt an mir, ich kann es in seinen Augen lesen. Er ist als Zweifler in die Welten gestürzt und wird sie ebenso verlassen. Es ist an mir, Entscheidungen zu

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