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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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Lichtweg. Weiter und weiter auf ein Ziel zu, das sie wohl niemals erreichen würden. Der Junge stolperte und Conchúbar zog ihn mehr, als dass er selbst ging. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Nichts regte sich. Manchmal konnte Conchúbar etwas in der Ferne erahnen. Häuser, Bäume, schwach und durchscheinend nur und meist verblassten sie, sobald er sie entdeckt hatte. Aber da war etwas und das gab ihm Hoffnung. Und das war besser als nichts. Alles war besser als nichts.
    Conchúbar blieb stehen und sah lange Zeit auf den Weg vor seinen Füßen. War das eine optische Täuschung? Gaukelte ihm sein ausgelaugter Geist etwas vor?
    Der Junge schüttelte den Kopf, als wolle er etwas abschütteln und rieb sich die Augen. „Welchen Weg müssen wir nehmen?“
    Der Turm schimmerte so klein und fern wie zu Anfang. Conchúbar folgte dem Abzweig mit den Blicken, die Hand schützend vor der nichtvorhandenen Sonne an die Stirn gelegt. Doch er konnte nicht erkennen, wohin er führte. Wo er endete. Ob er irgendwo endete.
    Er musste zum Turm, er musste das Mädchen dort hinbringen, das war sicher. Er wusste es mit all seinen Sinnen. Aber er würde niemals dorthin gelangen. Nicht auf diesem Weg.
    „Dort entlang“, sagte er und zog den Jungen mit sich.
    „Ist das der Weg zum Bahnhof?“
    „Ich weiß es nicht.“
    Der Junge schniefte und hielt Conchúbars Hand noch fester umklammert. Seine Schulter schmerzte, als schlüge jemand mit glühenden Eisen darauf ein. Das Mädchen wog so schwer. Und wurde immer schwerer. Aber diese Bürde würde er tragen müssen, er hatte sie sich selbst auferlegt. Und er war bereit, sie zu tragen. Bis ans Ende ihres Weges und weiter. Und immer weiter.
    Er wechselte ihren Körper auf die andere Schulter und nahm die Hand des Jungen wieder in seine. Dann sah er auf ihre beiden Hände. Die kleine weiße Hand in seiner dunklen Klaue. Wie ein Kieselstein in einem Kesselmoor. Mit dem Druck von nur zwei Fingern könnte er sie brechen. Aber in seinem Herzen hatte sich ein Gefühl eingenistet, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er würde sie nicht brechen und niemand sonst würde es tun, solange genug Atem in seinen Lungen, genug Kraft in seinen Muskeln wohnte, um es zu verhindern.
    „Am Ende dieses Weges liegt der Bahnhof“, sagte er und die Miene des Jungen hellte sich auf.
    Der Junge nickte voller Zuversicht. „Du bringst mich hin. Du lässt mich nicht allein.“ Und dann lächelte er ein müdes Lächeln, das das Nichts um sie herum unwichtig werden ließ. Sie hatten einander und das genügte.
    Immer wieder musste er den Jungen halten, weil er immer wieder in einen kurzen Halbschlaf fiel. Und dann klafften Risse im Nichts auf, durch die sich Gefährte bewegten, wie Conchúbar sie noch niemals gesehen hatte. Kutschen ohne Pferde, die aus eigener Kraft zu fahren schienen, mit Lichtsprühenden Augen, die ihn blendeten und seine Schritte stocken ließen, aus Angst, er könnte den Lichtweg verlassen und ins Nichts stürzen. Große, schlanke Tiere mit Hälsen, die ihre Körper um ein vielfaches überragten. Feuerspeiende Drachen, mit Flügeln, die viel zu klein waren, um ihre gedrungenen Körper in den Lüften tragen zu können und es doch taten. Und Menschen. Menschen, klein und schwach wie alle Menschen, aber sie flößten Conchúbar Furcht ein, in ihren weißen Gewändern und den starren Blicken und den glänzenden Dingen, die sie in Händen trugen. Die Bilder wurden realer, verdrängten das Nichts, bildeten einen ganz neuen Raum um den Lichtweg herum. Im nächsten Moment wurden sie vom Nichts absorbiert, nur um sich fünf Herzschläge später zu etwas anderem zusammenzusetzen.
    Conchúbar glitt in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Sein Körper funktionierte instinktiv, setzte einen Fuß vor den anderen, lief immer weiter auf dem Lichtweg entlang. Stunden-, tage-, jahrelang. Er spürte Leben entstehen und es dauerte nur drei Atemzüge, bis es wieder verging. Er spürte die Gezeiten, die die Meere antrieben, spürte Flüsse austrocknen und neue entstehen, wo vormals Ödland herrschte. Er fühlte mit all seinen Sinnen, Dinge, die er nie zuvor gefühlt hatte, und sein Körper schien zu bersten, so voll war er davon.
    Der Junge schwieg lange schon, hatte die Augen geschlossen, doch auch seine Füße taten ihren Dienst, weiter und weiter und weiter. Bis ein Pfeifen ihn den Kopf heben ließ. Die Bilder stabilisierten sich, bildeten ein großes Gebäude aus roten Ziegeln mit einem hölzernen

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