Kells Legende: Roman (German Edition)
werdet ihr in die alte Wildheit zurückfallen in die primitiven Zeiten von früher.«
»Halt den Mund und stirb!« Noch während er diese Worte hervorstieß, sprang er auf sie zu. Diesmal blieb Anukis vollkommen regungslos stehen, ihren Blick starr auf den Angreifer gerichtet. Das Sonnenlicht funkelte auf ihren silbernen Reißzähnen … und erst in der letzten Sekunde, dem letzten Sekundenbruchteil, fuhr sie herum. Vashells Klauen zischten an ihrer Kehle vorbei; seine Reißzähne zielten auf ihre Arterie, aber sie bewegte sich bereits, rollte sich zur Seite, sprang dann federnd wieder hoch, ihre eigenen Klauen ausgestreckt und eine seltsame Gelassenheit in ihrer Miene, während Vashell böse knurrte. Sie umkreisten sich, und dann griff er sie erneut mit einem wütenden Schrei an. Anukis wich aus, schneller als ein Schatten, und hämmerte ihm beide Klauen ins Gesicht. Dann krümmte sie die Krallen und riss ihm die gesamte Gesichtshaut weg. Diese blieb in ihren Krallen hängen, wie eine Maske. Vashell stand da, mit vorderseitig hautlosem Schädel, dessen Muskeln zu sehen waren, und glotzte sie vollkommen ungläubig an. Sein Gesicht war jetzt eine rote, pulsierende Fläche, vom Haaransatz bis zum Kiefer. Anukis richtete sich auf, seine Gesichtshaut in den Händen, und sah zu, wie das Blut auf den Boden tropfte. Vashell starrte ebenfalls dorthin und hob dann den Blick, die Augen voller Schmerzen, voll erschütternden Verstehens …
»Das ist die Rache dafür, dass du mich hintergangen hast«, flüsterte sie.
Mit einem düsteren Grollen warf er sich erneut auf sie. Sie trat ihm seitlich gegen die Brust, schleuderte ihn zurück, sprang dann hoch in die Luft und landete mit ausgestreckten Klauen auf ihm und warf ihn zu Boden. Kniete sich auf seine Brust, die Klauen um seine Kehle gelegt.
»Bring mich nicht um«, bat er sie. Sie blickte in sein blutiges, zerstörtes Gesicht hinab.
»Warum nicht?«
Er krümmte seine Krallen hinter ihr, und ohne ihre Haltung zu verändern, fuhren ihre eigenen Vachine-Krallen aus und trennten seine Krallen von seinen Fingern, erst von der einen, dann von der anderen Hand. Vashell heulte vor Schmerzen, während Blutöl aus seinen zehn verstümmelten Fingerspitzen spritzte. Anukis beugte sich dichter zu ihm hinunter, erfüllt von ihrer Überlegenheit, während ein kalter, metallischer Hass sich in ihr ausbreitete. Sie beugte sich noch weiter vor, und ihre Reißzähne gruben sich in seine Kehle. Er wehrte sich eine Weile, trat mit den Beinen und schlug mit seinen krallenlosen Händen auf sie ein in dem Versuch, diesen Vachine-Parasiten daran zu hindern, sich an ihm gütlich zu tun. Anukis genoss die Ironie dieser verwandelten Situation, als diesmal er es war, der schrie und sich wehrte, hilflos und schwach am Boden herumzappelte. Schließlich erhob sie sich, und an ihrem Kinn klebte ein Bart aus Blutöl. Sie lächelte ihn an, griff nach unten und riss ihm mit brutaler Kraft die Reißzähne heraus.
Anukis saß auf dem Steg und ließ die Beine baumeln, als Alloria auftauchte und sich neben sie hockte. Zögernd berührte die Frau Anukis’ Schulter. Die Vachine drehte sich um, und ihre Blicke begegneten sich. Anukis’ Gesicht war blutverschmiert. Ein Stück abseits lag Vashell zu einem Ball zusammengerollt und weinte salzige Tränen in das rohe Muskelgewebe seines Gesichtes.
»Habt Ihr Schmerzen?«
»Nein.« Anukis schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. »Kommt, wir müssen diesen Ort verlassen. Er zieht immer mehr Soldaten an, so wie eine Laterne die Motten anzieht.« Sie stand auf, reckte sich, und ihre Reißzähne glitten in die Kiefer zurück. Dann ging sie zu Vashell hinüber, während Alloria ihr mit unsicheren Schritten folgte. In ihren grünen Augen zeichnete sich eine sonderbare Mischung aus Furcht und Staunen ab.
»Wartet«, sagte Königin Alloria.
»Wie bitte?«
»Wo bin ich? Was mache ich hier?«
»Das hier ist das Silvatal, der Ort, an dem wir Vachine leben.«
»Ich habe noch nie von einem solchen Ort gehört. Aber wir sind noch in den Bergen, hab ich recht? Im Schwarzspitz-Massiv?«
»Wir befinden uns im Herzen dieses Massivs, ja.«
»Ich dachte immer, die Schwarzspitzen wären unüberwindbar. Jedenfalls ist das Volk von Falanor dieser Meinung.«
Anukis schüttelte den Kopf. »Das mögen viele Eurer, sagen wir, respektablen Bürger glauben. Aber es gibt einen höchst lukrativen Bluthandel mit den Schwarzlipplern. Sie besitzen keinerlei Moral. Und sie
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