Kells Legende: Roman (German Edition)
irgendwelchen Ritzen fest. Es war kalt und düster, und der Schnee peitschte durch die Luft. Die Barke glitt suchend und leicht schaukelnd weiter, und Anukis, erschöpft von Schmerz, Furcht, Erniedrigung und diesem stets gegenwärtigen Gefühl in ihrem Innersten, spürte, wie der Schlaf sie überkam. Sie lehnte sich an die Seite, ihre Augen schlossen sich, und dieses Mal hieß sie das tiefe, schwarze Vergessen des Schlafes wirklich willkommen.
»Wach auf!«
Vashell schüttelte sie. Anukis gähnte und richtete sich auf. Sie hatte einen Geschmack von Metall, Kupfer und Messing im Mund, und von noch etwas anderem.
»Wo sind wir?«
»Wir haben an den Ranger-Kasernen Halt gemacht. Man hat mich aufgefordert, an Land zu kommen. Du kommst mit, aber mach mir keine Schwierigkeiten, Anukis … sonst schlage ich dir den Kopf ab. Hast du das verstanden?«
»Warum lässt du mich nicht einfach hier? Ich bin erschöpft.«
Vashell grinste, und seine Augen funkelten. »Wieso? Damit du irgendeinen raffinierten Trick ausprobierst und die Barke im nächsten Augenblick ohne mich durch die Schwarzspitzen gleitet? Nein. Ich lasse dich nicht mehr aus den Augen … nicht, solange ich lebe.«
Anukis war zu müde, um sich zu streiten. Eigenartigerweise war sie noch müder als vor dem Schlafen; nach einem Blick auf die Uhr der Barke sah sie, dass sie immerhin sechs Stunden lang geschlafen hatte. Was war los mit ihr? Wieder schmeckte sie Metall … ein fast flüssiges Metall, und mit der Zunge untersuchte sie das merkwürdige Innere ihres Mundes. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Etwas in ihr veränderte sich.
Vashell schloss die Kette auf, nahm sie vom Haken, schlang sie um seine Faust und stieg die Treppe hoch und in ein kaltes, trostloses Sonnenlicht hinaus. Ein scharfer Wind peitschte Schnee von den Klippen ringsum und verursachte damit diesen merkwürdigen Effekt, wenn Sonnenlicht von Schnee gefiltert wird. Anukis folgte ihm, bedeckte die Augen und sah einen primitiven, hölzernen Steg und dahinter die Baracken. Es waren so viele, dass sie vermutlich Platz für mindestens zweihundert Soldaten boten. Jetzt schienen sie zwar verlassen zu sein, aber vielleicht irrte sie sich auch. In der Mitte stand ein langes, niedriges Gebäude, ebenfalls aus unbehandeltem Holz erbaut. Eine Tür schwang auf, und drei Albino-Krieger traten heraus. Ihre mattschwarzen Rüstungen glitzerten im Sonnenlicht, und sie bedeckten schützend ihre Augen vor der Helligkeit. Anukis wusste, dass sie die Sonne hassten, ebenso wie die Vachine. Sie bereitete ihnen Schmerzen, und wenn die Sonne wirklich heiß vom Himmel brannte, verlangsamte das die Funktion ihres Uhrwerks. Es überhitzte sich dann schnell und konnte in extremen Fällen sogar den entsprechenden Vachine durch mechanisches Versagen töten. Vachine bevorzugten die Kälte und die Dunkelheit; und ihre Albino-Sklaven noch viel mehr.
Anukis starrte die Krieger an und sah hinter ihnen eine Frau auftauchen; ihr Haar war zerzaust, und sie wirkte ziemlich mitgenommen: Gesicht und Arme von getrocknetem Blut überzogen, ihre Kleidung schmutzig. Sie sah aus wie eine Vagabundin, und Anukis empfand sofort Mitgefühl; da war jemand, der ebenso misshandelt, geschlagen und missbraucht worden war wie sie selbst. Sie beide hatten etwas gemeinsam: die Erniedrigung des Opfers.
Anukis betrachtete die Frau genauer, und ihr forschender Blick wurde aus grünen Augen stolz erwidert. Die Wildheit und die Überheblichkeit, die darin lag, waren zweifellos der Grund dafür gewesen, dass man ihr endlose Schmerzen zugefügt hatte. Doch trotz der Prügel, die sie kürzlich bezogen haben musste und, so wie sie aussah, auch schon vorher bezogen hatte, trotz ihrer zerrissenen Kleidung, der nackten Füße, die von Wunden und Schorf übersät waren, und trotz ihrer verfilzten Haare nahm Anukis jenseits der Qual und der geduckten Haltung die starke Frau dahinter wahr, eine große, elegante Frau. Es lag an der Art, wie sie sich gab, wie sie sich verhielt, an ihrem Mut. Sie war noch nicht gebrochen.
»Dieses Miststück ist wirklich nur verdammt schwer zuzureiten«, meinte einer der Albino-Soldaten lachend und deutete auf die Frau.
»Man hat euch angewiesen, sie zu misshandeln?« Vashell schien beunruhigt zu sein. Anukis dachte über seinen perversen Sinn für Rechtschaffenheit nach.
»Ja«, erwiderte ein zweiter Soldat. »Graal selbst hat es uns befohlen. Er hat uns gesagt, sie wäre ein gutes Werkzeug, ihren Ehemann zu bändigen, je mehr
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