Kells Legende: Roman (German Edition)
haben kein … Mitgefühl. Kennen keine Furcht.«
»Was ist ein Schwarzlippler?«
»Das ist ein Halbblut. Für die Vachine von Silvatal sind es die Illegalen, und von den braven Frauen und Männern Falanors werden sie geächtet. Für uns sind es die Illegalen, doch für Euch sind es Freaks und Vagabunden, die Armeedeserteure, die gehenkt werden sollen, die Missgebildeten, die man in den tiefliegenden Bergschluchten dem Tod überantwortet hat. Das ist doch Eure Tradition, stimmt’s? Das macht Ihr doch mit Neugeborenen, die keine Arme haben. Die verkrüppelt sind. Das sind die Schwarzlippler. Es sind keine netten Menschen, die einer guten, vornehmen Gesellschaft entspringen. Sie sind schwach. Sie sind Krüppel, Kranke. Untermenschen, deren Existenz Ihr lieber verleugnen würdet.« Anukis holte tief Luft und richtete ihren Blick dann wieder auf den kalten, langsam dahingleitenden Fluss. Er ist genauso wie ich, dachte sie. Dann lächelte sie. »Es tut mir leid. Ich bin ein bisschen verbittert. Ich wurde in letzter Zeit … häufiger missbraucht, wurde ausgestoßen, weil ich jemand bin, der anders ist. Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn man von jenen gehasst wird, die einen einst akzeptiert haben.« Sie sah Alloria an. »Früher einmal flüchteten sich Eure Ausgestoßenen zu uns; aber die Vachine klammern sich ebenfalls an ein primitives Überlegenheitsgefühl und haben sich deshalb gegen die Schwarzlippler gestellt. Jetzt verfüttern diese Schwarzlippler, illegalerweise natürlich, allmählich Eure Nation an unsere. Sie halten das für eine Art von Gerechtigkeit. Einen Ausgleich.«
»Verfüttern?«
Anukis lächelte. »Unsere Währung besteht aus Blut«, erklärte sie.
Alloria schnappte nach Luft und schlug sich die Hände vor den Mund. »Ist Eure Armee deshalb in unser Land eingefallen?«
Anukis nickte. »Unsere Zivilisation expandiert, und unsere Bedürfnisse haben sich um ein Vielfaches vergrößert. Wir haben den Kampf, unsere Bedürfnisse aus eigener Kraft zu stören, verloren. Aus diesem Grund …« Sie verstummte, als ihr Blick auf die leblose Gestalt von Vashell fiel, »… mussten wir unser Gebiet ausdehnen, nach Süden gehen; dorthin, wo so viele reiche Ernten winken.«
»Ihr redet von meinem Volk, den Menschen von Falanor, als wäre es Vieh!« Allorias Augen wurden hart.
»Das werden sie auch bald sein«, erwiderte Anukis und legte den Kopf auf die Seite. »Und zwar, sobald die Vachine die Blutraffinerien errichtet haben.«
»Ich verstehe das nicht. Mein Ehemann, der König, ist ein großer Krieger. Er hat Tausende von Soldaten zur Verfügung; eine Armee von unbesiegbarer Macht! Er wird jede Invasion mit aller Kraft zurückschlagen und Euer Vachine-Volk wieder in die Berge zurückjagen, als die Barbaren, die Ihr zweifellos seid. Entweder das, oder aber er wird Eure Soldaten gnadenlos abschlachten.«
Auf der anderen Seite der Lichtung begann Vashell zu lachen. Er richtete sich mühsam auf; seine blutige, hautlose Fratze schien sie zu verspotten. Er hatte seine verstümmelten Hände in den Schoß gelegt und lachte in einem obszönen Gurgeln.
Anukis ging zu ihm. »Was ist denn so komisch, du gesichtsloser Dreckskerl?«
Vashell lehnte den Kopf ein wenig in den Nacken und sah zu ihr hoch. »Nun, Kradek-ka hat wirklich großartige Arbeit mit dir geleistet, meine perverse, süße, kleine Missgeburt. Seine Technologie, das muss ich zugeben, ist wahrhaft superb. Denn ich bin noch nie in einem Kampf besiegt worden, weder von einem Menschen noch von einem Vachine.« Er holte tief Luft, und Anukis bemerkte den Schmerz in seinen Augen. Es war nicht nur ein körperlicher Schmerz, sondern er war auch in seinem Innersten zutiefst verletzt. Das versuchte er mit seiner Forschheit zu überdecken, aber sie kannte ihn viel zu gut, um darauf hereinzufallen.
»Ich habe dein Gesicht in den Fluss geworfen«, sagte sie und beugte sich dichter zu ihm hinunter. »Ich glaube nämlich nicht, dass du es noch einmal brauchst.«
Vashell zuckte mit den Schultern. »Du kannst mit mir verfahren, wie dir beliebt, aber du weißt, dass sie kommen werden.«
»Wer?«
»Die Schnitter. Ich bin mit ihnen verbunden. Sie haben meinen Schmerz gespürt. Während du hier auf deinem Hintern herumsitzt und mit dem wundervoll saftigen Königinnenfleisch von Falanor plauderst, haben sie längst dein Schicksal entschieden. Kradek-ka soll nicht mehr zurückgebracht werden. Ich vermute, dass sie jetzt einfach deine Auslöschung befehlen, denn du
Weitere Kostenlose Bücher