Kells Legende: Roman (German Edition)
die Schulter ihrer Schwester zu. »Es geht mir gut. Ich bin verliebt! Wie geht es dir? Haben die Ingenieure dir etwas angetan? Sag schon.«
Shabis lachte. »Mir geht es ausgezeichnet. Ich bin wie eine Königin behandelt worden. Man hat mich wirklich richtig verwöhnt. Du siehst glücklich aus, Anukis, auch wenn du ein bisschen mitgenommen wirkst.« Sie wandte den Kopf und sah Vashell an. »Er hat mir von dir erzählt, mich auf dem Laufenden gehalten, was deine Gesundheit angeht. Ich bin so froh, dass ihr beiden euch liebt! Es wäre einfach perfekt, wenn ihr heiratet, und eure Kinder werden gewiss wunderschön!« Sie kicherte und zog Anukis zum Bett. Dort drehte sie sich herum und scheuchte Vashell mit einer Handbewegung fort. Er gehorchte und verschwand.
»Haben sie sich wirklich um dich gekümmert?«
»Das haben sie«, erklärte Shabis und küsste Anukis auf die Wange. »Und du? Wie ist es dir ergangen?«
Anukis’ Miene verhärtete sich. »Ich bin verurteilt worden, Shabis. Man hat mich schlimmer behandelt als einen Hund, schlimmer noch als einen Canker.« Sie sprang vom Bett auf und trat ans Fenster, ohne den wundervollen Anblick zu registrieren, der sich ihr bot. Es hatte angefangen zu schneien, und eine dichte, weiße Decke legte sich allmählich über die Welt von Silvatal.
»Was meinst du damit?«
Shabis stand hinter ihr, hielt sie fest. Ihr Blick war besorgt.
»Vashell hat mich geschlagen, er hat mich verletzt, Shabis. Er hat mich übel verletzt. Er hat mich wie eine Sklavin vor die Ingenieure geführt. Und dann hat er … hat er mein Blut getrunken.« Sie hörte, wie ihre Schwester zischend die Luft einsog. »Er hat von mir getrunken, Shabis. Er hat aus meinen Adern getrunken, meine Unreinheit für alle sichtbar gemacht. Und dann hat er … hat er mich genommen. Körperlich, lüstern. Und ich hatte keine Wahl, als nachzugeben, wenn ich uns beide retten wollte, dich und mich.«
Sie verstummte grübelnd und beobachtete den Schneefall. Irgendwie hatte Silvatal für sie seine Schönheit verloren, seinen Charme. Es war immer noch ein perfektes Pastellgemälde, gewiss, eingerahmt von Silberquarz, und doch war es für Anukis jetzt, nach allem, was passiert war, eine Vision der Hölle. Schlimmer noch. Die Vision einer von Cankern verseuchten Canker-Hölle.
»Was willst du unternehmen?« Shabis’ Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Ich habe einen Plan!« Anukis packte ihre Schwester und schüttelte sie heftig. »Ich werde Vashell töten. Und dann werden wir fliehen. Wir werden Silvatal verlassen, werden dieser Welt für immer den Rücken kehren. Wir werden das Schwarzspitz-Massiv überqueren und ein neues Leben beginnen.«
»Aber was ist mit unserem Vachine?«, erkundigte sich Shabis leise. »Was passiert, wenn der Mechanismus versagt? Wer wird unser Uhrwerk reparieren?«
»Ich besitze einige Fertigkeiten diesbezüglich.« Anukis betrachtete ihre Schwester, spürte ihre Furcht, die Feigheit, die sie wie ein leises Rieseln durchlief. »Du verstehst das nicht, Shabis. Sie haben unseren Vater ermordet! Wir sind jetzt auf uns gestellt. Wir sind ganz alleine in der Welt.«
»Sie haben ihn umgebracht … aber nein! Das haben sie nicht! Er lebt immer noch! Er ist auf einer Reise unterhalb der Schwarzspitzen unterwegs und wird in ein paar Monaten zurückkommen.«
»Das glaubst du ihnen?«
»Warum sollte ich ihnen nicht glauben?«
»Was haben sie dir noch erzählt?«
»Nichts! Anu, du machst mir Angst! Hör auf damit!«
»Es tut mir leid, meine Kleine. Meine süße Shabis, wir müssen von hier verschwinden. Ich möchte, dass du dich bereithältst. Verstehst du das?«
»Ja. Ich verstehe.«
Anukis schüttelte sie, bis Shabis das Haar in die Stirn fiel. »Du tust mir weh!«, protestierte die jüngere der beiden Schwestern.
»Ich meine es ernst. Begreifst du das?«
»Ja! Anu, ja, ich verstehe!«
»Gut.«
Dann herrschte einen Moment Pause. Shabis spielte mit ihrem Haar, während sie beide den Schnee beobachteten. »Anu?«, sagte Shabis schließlich.
»Schwester?«
»Wie willst du ihn töten? Vashell, meine ich.«
»Ich habe eine geheime Waffe.«
»Und was für eine?«
Anukis’ Augen glühten düster. »Das wirst du schon sehen.«
Es war Nacht geworden. Anukis wurde von einem heftigen Schlag ins Gesicht geweckt. Der Hieb brach ihr die Nase, und sie würgte an dem Blut, das ihr in den Hals lief. Sie rollte sich instinktiv herum, weil sie einen Moment vor Schmerzen nichts sehen konnte, bedeckte
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