Kells Legende: Roman (German Edition)
irgendeines Unbekannten.
»Ihr braucht meinen Vater«, sagte Anukis. Ihre Stimme klang kalt, härter.
»Unser Problem ist weit, weit größer und umfassender, als dass es nur deinen Vater beträfe.« Sa legte ihren Kopf auf die Seite. Nach wie vor spielten ihre Hände mit der Maschine, tauchten ein in diesen Wirbel von Zahnrädern und Rädchen und Kolben. »Es geht um das Blutöl.«
»Was ist damit?«
»Es geht uns aus, wir haben bald keines mehr.« Sa beobachtete Anukis genau. »Wie du weißt, haben wir im Norden unsere Felder, jenseits der Organischen Ebenen. Aber das Vieh stirbt, hat aufgehört sich zu vermehren, und unsere Vorräte an raffiniertem Blutöl sind nahezu erschöpft. Wir haben eine Gruppe von Kundschaftern nach Süden geschickt, auf die andere Seite des Schwarzspitz-Massivs; sie suchen neues Vieh.«
Anukis nickte einmal kurz.
»Verstehst du die Konsequenzen dessen, was ich sage?«
»Wenn das Blut zur Neige geht, kann kein neues Blutöl raffiniert werden; dann wird der Mechanismus die Kontrolle übernehmen und die Vachine werden sterben.«
»Ja, das hier ist eine Bedrohung für unsere Zivilisation, Anukis. Aber es gibt noch mehr, nämlich ein Problem mit diesen Blutraffinerien, die dein Vater zu erbauen half … die er entwickelte und entwarf. Sie haben einen Fehler herausgebildet. Ein Fehler, der in seinen Berechnungen liegt, in seinen Entwürfen, seiner Blutöl-Magie. Folglich ist es ein Element, das nur er korrigieren kann. Kradek-ka war ein Genie.« Sie sagte es leise und höchst respektvoll. »Er war Uhrwerker.«
»Was passiert, wenn die Raffinerien zusammenbrechen?«
Sa lächelte, vollkommen humorlos. »Wir werden auf das Niveau der Jäger und Sammler zurückfallen. Denn wie sollten achtzigtausend Vachine ihre Gier nach Blutöl stillen können? Wir werden degenerieren, Anukis. Unsere Gesellschaft wird sich zurückentwickeln, wird zerfallen und schließlich vergehen, während wir aufeinander losgehen und uns wieder in Clans und Stämme aufteilen. Allein der Gedanke daran ist unerträglich. Die dunklen Zeiten unserer Zivilisation waren eine blutige, üble Zeit, in der die einzigen Vachine, die litten und bluteten, Vachine waren. Jetzt ernähren wir uns vom Blut von anderen. Unsere Bevölkerung ernährt sich von Vieh, das für diesen Zweck gezüchtet wird. Der uralte Krieg mit den Albinos, die unter dem Berg leben, ist Vergangenheit. Wir haben die Berge erobert, wir beherrschen sie, die Albinos wurden unsere Sklaven … und das alles wegen unserer überlegenen Kultur, unserer Zivilisation, unserer Evolution! Ich kann nicht zulassen, dass uns dies alles genommen wird. Ich kann nicht zulassen, dass diese Hierarchie, diese Religion, scheitert.«
»Ich bin von unreinem Blut«, antwortete Anukis leise. Ihr Blick blieb auf Sa gerichtet. »Ihr habt mich aus unserer Vachine-Welt ausgestoßen. Warum sollte es mich also kümmern, wenn ihr untergeht? Vashell hat mich missbraucht, mich gedemütigt, meine Schwester ermordet; ich werde von meinem eigenen Volk verstoßen, wegen eines genetischen Fehlers, auf den ich keinerlei Einfluss hatte. Ich bin nicht gerne unhöflich, Sa, aber ihr Blutöl-Säufer könnt meinetwegen leiden und sterben, so viel ihr wollt.«
Sa lächelte. Ihre Augen hinter der Maske funkelten. »Hat dein Vater dir jemals etwas über den Ursprung der Canker erzählt, süße Anukis?«
»Was meint Ihr damit?«
»Canker sind … Kradek-kas größte Errungenschaft. Sie sind gewissermaßen eine Methode, wie man Abfallprodukte nutzbringend weiterverwenden kann. Canker sind gezüchtete und aufgepäppelte Missbildungen; eine Mischung aus pervertiertem Uhrwerk und Körper, einfacher ausgedrückt, sie sind das wahnsinnige Endprodukt von dem, was herauskommt, wenn die Züchtung eines Vachine misslingt. Wir halten sie natürlich von der Gesellschaft der Vachine fern; aus diesem Grund kennst du ihren Namen zweifellos als Beleidigung. Aber du hast noch nie dieses Endprodukt tatsächlich mit eigenen Augen gesehen.« Sie holte tief Luft. »Jedoch …«
Die Pause, die Sa machte, verletzte Anukis. Sie wusste nicht genau, warum sie plötzlich einen solch unbeschreiblichen Horror empfand, aber sie tat es. Sie riss die Augen weit auf. Herzklopfen ließ das Uhrwerk in ihrer Brust erbeben. Sie verkrampfte die Hände, und die Furcht schmeckte wie ranziges Öl in ihrem Mund.
»Was wollt Ihr damit sagen?«, stieß sie hervor.
Sa stand auf und legte ihre Uhrwerkmaschine auf die Werkbank. Dann trat sie
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