Kells Legende: Roman (German Edition)
ja das Eis.«
»Ja. Es erinnert mich zu sehr an meine Kindheit.«
»Keine Angst. In einer Woche wird Leanoric die Ausbildung seiner Leute beendet haben, und die Freiwilligen-Regimenter werden sich in den Winterurlaub verabschieden. Dann wird er uns im Iopia-Palast erwarten, wo man einen großen Ball veranstalten wird. Eine Woche lang werden überall Feuer brennen und Feuerwerke abgeschossen, und dann, meine liebe Mary, wirst du dich wieder warm fühlen.«
Mary nickte. Sie stand immer noch dicht bei Alloria. »Ich werde mich aber niemals so warm fühlen wie in Eurer Nähe, meine Königin«, sagte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Flüstern.
Alloria lächelte und legte Mary einen Finger auf die Lippen. »Schhh, meine Kleine. Das ist nicht der rechte Ort für ein solches Gespräch. Komm, begleite mich in meine Gemächer; ich habe ein wundervolles, blaues Seidenkleid von meiner Schneiderin bekommen und frage mich gerade, wie gut es wohl passen wird.«
Arm in Arm gingen sie über die mit Stein und Marmor gepflasterten Wege, zwischen steinernen Säulen und überdachten Pergolen hindurch, an denen Rosen und Wintergeißblatt blühten. Ihr Geruch erfüllte die Luft, und Alloria schloss die Augen. Sie wünschte sich, sie wäre mit ihrem Ehemann zusammen, mit ihrem König, ihrem Geliebten, ihrem Helden. Sie lächelte, als sie sich sein Lächeln vorstellte, seine Hände auf ihrem Körper fühlte. In dem Moment erschauerte sie, als wäre ein Geist über ihr Grab gegangen.
»Was habt Ihr?«
»Nichts. Ich habe nur an Leanoric gedacht. Ich vermisse ihn.«
»Er ist ein wundervoller Ehemann«, sagte Mary. »Welche Kraft! Eines Tages werde ich vielleicht einen ebensolchen Mann finden.«
»Erran hat ein Auge auf dich geworfen, glaube ich.«
»Meine Königin!« Mary errötete und senkte den Blick. »Ich fürchte, da irrt Ihr Euch.«
»Keineswegs. Ich habe gesehen, wie er dich beobachtet hat, deinen Gang, den Schwung deiner Hüften und das Wogen deines Busens, wenn du eilige Besorgungen zu erledigen hattest. Ich glaube, er ist in dich verliebt.«
Erran war der Hauptmann der Wache im Herbstpalast. Er war zweiunddreißig Jahre alt, unverheiratet, muskulös und auf eine dunkle, aufregende Art und Weise attraktiv. Er war galant, vornehm und einer der besten Schwertkämpfer in Leanorics Legionen. Aus diesem Grund hatte er die vertrauensvolle Position inne, Königin Alloria zu beschützen.
»Ihr scherzt«, sagte Mary schließlich.
»Komm, fragen wir ihn!«
»Nein, Majestät!«, stieß Mary keuchend hervor. Alloria kicherte, löste sich von der jungen Frau und rannte eine Marmortreppe hinauf. Auf dem oberen Treppenabsatz standen zwei Wachsoldaten mit langen Speeren, deren Spitzen mit bedrohlichen Haken gespickt waren. Sie blickten starr geradeaus, als Alloria zwischen ihnen hindurchrauschte und ihre Röcke zischend über die Edelsteine glitten, die in den mit Gold gesäumten Boden eingelassen waren.
»Erran! Erran!«
Der Hauptmann tauchte unverzüglich auf, im Laufschritt, die Hand auf den Schwertgriff gelegt. »Ja, meine Königin?«
»Keine Sorge, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Ich habe nur eine einfache Frage an Euch.«
In dem Moment tauchte auch Mary auf, die etwas außer Atem war. Alloria sah, wie Errans Blick sehnsüchtig über Mary glitt, bevor er sich wieder fragend auf sie richtete, nachdem sein Pflichtbewusstsein erneut die Kontrolle übernommen hatte. »Ich werde mein Bestes tun, meine Königin.«
»Nein«, flüsterte Mary, die die Situation offenbar missverstanden hatte.
»Ich habe mich gefragt, ob Ihr einen Ersatz für die beiden Wachsoldaten gefunden habt, die letzte Woche erkrankt sind. Sonst haben wir nur noch achtzehn Soldaten auf dem Gelände des Palastes.«
»Die Garnison in der nächstgelegenen Stadt wurde bereits verständigt, meine Königin. Während wir uns unterhalten, rückt bereits der Ersatz an. Der dortige Hauptmann hat mir persönlich garantiert, dass er zwei seiner besten Leute schicken wird.«
»Gut! Wann werden sie eintreffen?«
»Später am Abend, glaube ich«, erwiderte Erran mit einem beruhigenden Lächeln. »Habt Vertrauen in jene, die Euch dienen, meine Königin.«
»Das habe ich, Erran, das habe ich.« Sie lächelte den Mann strahlend an und ging dann weiter in ihre Gemächer, die jenseits des Bogenganges aus Alabaster, Stahl und Marmor lagen. Im Hintergrund versank die aufgeblähte, rotschimmernde Sonne hinter dem Horizont, und ihre nahezu horizontal über die Ebene gleitenden
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