Kells Legende: Roman (German Edition)
mehr als nur Wände, wurden zu Maschinen, zu Mechanismen, zu Uhrwerk. Anukis begriff, dass dies hier kein einfacher Korridor mehr war, sondern eine lebende, atmende, arbeitende Maschine. Ebenso wie der Ingenieurspalast mehr als nur ein Gebäude war: Er war ein lebendes Ding, mit einem Puls aus Quarz und einem Herz aus Gold.
»Halt.«
Vashell hielt etwas in den Fingern, das aussah wie ein winziger Kranz aus Knochen; er legte es auf, drückte es an einen Mechanismus neben einer einfachen Metalltür. Es zischte, geöltes Metall glitt über Metall, und das Objekt in seiner Hand fuhr kleine Nadeln aus, die sich mit der Maschinerie verbanden. Das Portal öffnete sich, aber auf eine Art und Weise, wie Anukis es noch nie gesehen hatte; eine Reihe von gebogenen Metallplatten, geölt und glänzend, schien sich umeinander zu schieben, als die Tür sich nicht einfach öffnete, sondern sich gleichsam aufschälte.
Sie trat hindurch, in eine arbeitende Maschine hinein.
Der Raum war von einem gigantischen Mechanismus erfüllt, von einem Uhrwerk, einer Maschine, die aus Tausenden und Abertausenden von kleineren Maschinen zu bestehen schien. Überall glänzten Messing und Gold. Zahnräder drehten sich, griffen ineinander, Wellen und Spindeln rotierten, aus winzigen Löchern zischte Dampf, Pumpen aus Messing arbeiteten vertikal, horizontal und diagonal. Wohin Anukis auch blickte, sah sie Bewegung, von Wippen und Nocken, von Ventilen und Kolben. Sie erschauerte. All das erinnerte sie an die Uhrwerke, die man den Neugeborenen implantierte … nur war das hier alles viel, viel größer, gigantischer. In einem schrecklichen Maßstab.
Vashell führte sie weiter durch einen natürlichen Gang in das Herz dieser ungeheuerlichen Maschine, die sich über ihr erstreckte, soweit Anukis sehen konnte, bis sie in der Dunkelheit verschwand. Sie roch das heiße Öl, die süße, berauschende Essenz von Blutöl. Und noch ein anderer Geruch drang ihr in die Nase … ein metallischer, ätzender Geruch wie von einem Insekt: das metallische Parfüm von einer Million sich bewegender Mechanismen.
Vashell blieb stehen. Sein kurzes Aufstampfen mit den Füßen wurde von dem Messingboden gedämpft. Anukis blickte hoch, blinzelte gegen das schwache, goldene Licht. Vor ihr befand sich eine einfache Werkbank aus Metall, hinter der eine Frau saß. Ihre Hände spielten mit einem konvexen Mechanismus, der sich bewegte, sich drehte, herumwirbelte, schließlich veränderte, während ihre Hände unaufhörlich um die Maschinerie herum- und hineingriffen. Es war fast, als würde sie dabei zusehen, wie ein Arzt eine Hochgeschwindigkeitsoperation an einem Organismus durchführte, einem lebenden, atmenden, funktionierenden Organismus. Anukis blickte der Frau ins Gesicht, das perfekt und zugleich verzerrt war. Sie schien eine matt schimmernde Messingmaske zu tragen.
»Sei gegrüßt, Tochter des Vachine«, begrüßte die Frau sie und lächelte. Ihre Augen glänzten, während ihre Hände nach wie vor unaufhörlich an dem beinahe organisch wirkenden Uhrwerk arbeiteten. »Mein Name ist Sa. Ich bin eine Uhrwerkerin.«
Anukis konnte ihre Verblüffung ebenso wenig verbergen wie ihren Ekel.
Die Uhrwerker waren vollkommen paranoid, jedenfalls ihrer Meinung nach. Sie mischten sich niemals unter das Volk, sondern verbargen sich stattdessen im Ingenieurspalast. Sie gaben Befehle aus, die ein großer Teil der Vachine-Bevölkerung vollkommen realitätsfremd fand, ohne Bezug zu der Gesellschaft, in der ein moderner Vachine lebte, arbeitete, aß und trank.
»Ihr habt mich missbraucht«, antwortete Anukis schlicht.
»Wir haben dich gestärkt«, widersprach Sa.
»Was wollt Ihr von mir?«, erkundigte sich Anukis.
»Wir haben ein Problem«, erwiderte Sa lächelnd. Ihre goldfarbenen Messingaugen wirkten freundlich, ihre Reißzähne ragten nur ein kleines Stück über die Lippen ihrer Maske hervor. Sie war wundervoll, erkannte Anukis an, jedenfalls im Sinne der Vachine. Trotz ihrer zierlichen Gestalt, die nichts Athletisches oder Mächtiges an sich hatte, begriff Anukis, dass diese kleine, dunkelhäutige Frau Energie und Macht ausstrahlte, und sie bemerkte Vashells unterwürfige Haltung. Eine höchst ironische Umkehrung angesichts seines Verhaltens in ihrer Zelle. Er hatte diese Überlegenheit nur gespielt, um sie zu beeindrucken. Anukis runzelte die Stirn. Sie war nur ein Bauer in einem komplizierten Spiel, denn sie wurde manipuliert, zum Narren gehalten, war ein Werkzeug in den Händen
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