Kells Legende: Roman (German Edition)
seine Nüstern waren vollkommen schaumbedeckt gewesen, ebenso der Hals. Der gequälte Kaufmann hatte irgendetwas gebrüllt, zunächst etwas Unverständliches, doch dann hatte er seine Neuigkeiten in kurzen Stößen von sich gegeben, die von Anfällen unterbrochen wurden, in denen er entweder um Gnade winselte oder aber den König anflehte, sein Leben zu verschonen. Es war … Leanoric suchte nach einem passenden Ausdruck, seufzte und fuhr sich dann mit der Hand durch sein kurzes goldblondes Haar. Es war eine zutiefst erschütternde Erfahrung gewesen.
Also. Was hätte mein Vater jetzt getan?
Leanoric dachte über den ehemaligen König nach, der mittlerweile seit fünfzehn Jahren tot war. Er hatte sein ganzes Leben lang als Kriegerkönig gedient, war ein unvergleichlicher Kämpfer gewesen, riesig, schnell und furchtlos, ein Mann, mit dem man durch die tückischen Berge marschieren, jemand, mit dem man Löwen jagen konnte. Searlan, König von Falanor, war mit nur sechsundfünfzig Jahren von seinem Pferd abgeworfen worden und hatte sich das Genick und die Lendenwirbelsäule gebrochen. Drei Tage lang hatte er sich noch grimmig an sein Leben geklammert, während Spezialisten und der äußerst fähige Chirurg der Universität, Malen-sa, sich um ihn gekümmert hatten. Am Ende jedoch war das Lebenslicht in seinen Augen ebenso erloschen wie sein Lebenswillen, während seine gelähmten Glieder schlaff und reglos im Bett lagen. Er begriff allmählich, als würde ein Schwamm das Wissen in seinem Hirn aufsaugen, dass er niemals wieder würde gehen können, niemals reiten, niemals wieder jagen, tanzen, lieben oder kämpfen. In diesen letzten Tagen, als selbige Erkenntnis langsam in ihm dämmerte, hatte Searlan seinen Lebenswillen verloren und war schließlich gestorben. Die Ärzte kamen schließlich nach langer Beratung zu dem Schluss, dass der Tod durch innere Blutungen eingetreten war. Leanoric jedoch wusste, dass dies nicht stimmte; denn er selbst hatte seinem Vater in einer stürmischen Nacht, auf dessen flehentliche Bitten hin, eine Klinge ins Herz gebohrt, als er, Leanoric, neben dem Krankenbett saß und mit Macht seine Tränen zurückhielt.
»Mein Sohn, ich werde nie wieder gehen können.«
»Doch, das wirst du, Vater«, widersprach Leanoric und nahm die Hände des alten Mannes in seine.
»Nein. Mir ist mein Schicksal jetzt klar. Ich begreife meine Situation und weiß, was mir bevorsteht. Ich habe auf dem Schlachtfeld solche Verletzungen oft gesehen, so oft. Und jetzt ist die Reihe an mir.« Er lächelte, aber sein Lächeln verwandelte sich in ein Zucken, dann in ein Zähneknirschen, als er gegen den Schmerz ankämpfte.
»Spürst du deine Zehen immer noch nicht?«
»Ich fühle, wie mein Herz schlägt, und ich kann meine Lippen bewegen. Meine Finger, meine Zehen und meinen Schwanz jedoch vermag ich nicht mehr zu kontrollieren.« Er lachte erneut, aber selbst diese einfache Körperfunktion erforderte eine ungeheure Mühe. »Ich kann noch von Glück reden, dass ich immer noch mit dir sprechen kann, mein Sohn. Das ist wirklich ein Glücksfall.«
Leanoric drückte seine Finger, obwohl sie nicht darauf reagierten, kein Druck den seinen erwiderte.
»Ich liebe dich, Vater.«
Searlan lächelte. »Du warst immer ein guter Sohn, Leanoric. Du hast mich stolz gemacht, an jedem einzelnen Tag meines Lebens. Von dem Augenblick an, als die Hebamme dich kreischend aus dem Leib deiner Mutter zog, vollkommen blutbedeckt und in Schleim gehüllt, das winzige Gesicht zu einer Fratze verzogen, während deine Pisse in hohem Bogen durch den Raum schoss, hast du mir nichts als Freude bereitet.«
»Es wird noch mehr Freude in deinem Leben geben«, antwortete Leanoric, dem Tränen in den Augen schwammen. Seine Kehle schmerzte vor unausgesprochener Trauer.
»Nein. Meine Zeit auf dieser Welt ist vorüber.«
»Lass mich Mutter holen.«
»Nein!« Das Wort klang wie eine Ohrfeige und hielt Leanoric auf, der sich bereits von dem Schemel erhoben hatte. »Nein.« Diesmal wiederholte Searlan das Wort sanfter. »Ich kann mich nicht von ihr verabschieden; es würde mir das Herz brechen, und ich würde auch das ihre brechen. Es muss so geschehen. Ich muss im Schlaf sterben.«
Leanoric starrte seinem Vater in die Augen.
»Ich kann das nicht.«
»Du wirst es tun.«
»Ich kann nicht, Vater.«
»Du wirst, mein Junge. Denn ich liebe dich, und du liebst mich, und du weißt, dass diese Sache getan werden muss. Ich würde dir ja durchs Haar streichen,
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