Kells Legende: Roman (German Edition)
ein Stück zur Seite und blickte nach Westen. Er konnte gerade noch in der Ferne die schimmernden Pflastersteine der Großen Nordstraße erkennen, die einige als sein bestes Werk bezeichneten. Es war eine einzelne, breite Prachtstraße, die etliche Meilen durch Hügel und Täler verlief, durch Wälder und Moore, das Land in zwei Hälften teilte und gleichzeitig Falanors Hauptstadt Vohr im Süden mit der größten nördlichen Universitätsstadt Jalder verband. Die Große Nordstraße war ein Haupt-Handelsweg und garantierte außerdem Schutz, da auf ihr Leanorics Soldaten patrouillierten. Durch ihren Bau war es gelungen, Strauchdiebe, Wegelagerer und Briganten zu vertreiben und sie entweder weiter nach Norden abzudrängen, in die wilde, unermessliche Hölle des Schwarzspitz-Massivs, oder nach Süden, über die Meere, wo sie andere Länder heimsuchten.
Was würde mein Vater tun?
Leanoric rieb sich sein stoppeliges Kinn, das Zeugnis ablegte von drei Tagen im Sattel, und wendete sein Pferd erneut. Jetzt hielt er Ausschau nach seinen eigenen Kundschaftern, die aus Alt-Skulkra und Corleth zurückerwartet wurden.
Die Gerüchte hatte ein alter Kaufmann auf einem halbtoten Pferd überbracht, und ein furchtsames Prickeln lief seitdem über Leanorics Rückgrat und seine Kopfhaut.
Eine Invasion!
Jalder war eingenommen!
Der König lächelte. Es war ein bitteres, zurückhaltendes Lächeln, als er an seine Adlerdivisionen dachte. Zwei Regimenter mit je achthundert Mann lagerten am Corlath-Moor, drei Tagesmärsche von Jalder entfernt. Ein weiteres Bataillon mit vierhundert Soldaten war an den Schwarzspitzen-Steinbrüchen im Westen des Massivs stationiert und konnte in etwa einer Woche in Jalder sein, etwas später, wenn es stärker schneite. Noch weiter im Norden, in der Nähe von Alt-Skulkra, lag eine Brigade von eintausendsechshundert Infanteristen, und dicht bei ihnen eine Division von fünftausend Mann, die unter dem Befehl des gerissenen alten Divisionsgenerals Terrakon standen. Und eine weitere Brigade führte gerade östlich des Valantrium-Moores ein Manöver durch.
Er konnte innerhalb von zwei Wochen weitere vier Brigaden aus dem Süden von Vohr ausheben und dann mit nahezu zwanzigtausend Soldaten Jalder angreifen. Das war die gesamte Armee von Falanor. Zwanzigtausend schwer bewaffnete, kampferprobte Soldaten, Infanteristen, Kavalleristen und Pikeniere. Aber … Was, wenn das nun nicht mehr als die wilden Fantasien eines betrunkenen, schwachsinnigen alten Kaufmanns waren? Irgendeines Mistkerls, der berauscht von Karissia Blau war, der Schaum im Mund hatte und dem der Rausch der Droge durch die Adern strömte, der nur mit seiner vagen Befürchtung das langsame, aber zermalmende Räderwerk der Mobilisierung einer ganzen Armee in Gang gesetzt hatte?
Es war Leanoric nicht entgangen, dass der Winter heraufzog und Tausende von Soldaten sich darauf freuten, zurück in ihre Heimstätten gehen zu dürfen. Leanoric hatte den Urlaub bereits um drei Tage verschoben; er spürte, wie der Unmut der Soldaten mit jeder Stunde wuchs, immer stärker wurde. Wenn er seine Truppen nicht bald in den Winterurlaub entließ, wurden sie möglicherweise vom Schnee überrumpelt, weil dann die Große Nordstraße immer schwerer zu passieren war. In diesem Fall riskierte Leanoric erheblichen Unmut unter den Soldaten, Desertionen und möglicherweise noch Schlimmeres.
Er knirschte mit den Zähnen, seufzte und versuchte sich zu entspannen.
Wenn seine Späher doch endlich mit Nachrichten auftauchen würden!
Es kann nur ein schlechter Witz sein, nicht mehr, sagte er sich. Die Garnison in Jalder war mehr als fähig, mit einem Haufen von Briganten aus dem Schwarzspitz-Massiv fertig zu werden; dazu mit allen möglichen Verbrechern, den wilden Schwarzlipplern und auch einer Bande von diebischen Waldläufern.
Zum wiederholten Mal dachte der König über den alten Kaufmann nach, der im Augenblick von Leanorics eigenen Ärzten in seinem königlichen Zelt versorgt wurde. Der Mann konnte nicht mehr sprechen. Seine Haut brannte und schälte sich ab, als wäre er über einem Feuer halb gekocht worden. Er hatte die Augen in panischer Angst weit aufgerissen, und es war ihnen bisher nicht gelungen, seinen Namen in Erfahrung zu bringen. Er war auf einem Pferd ins Lager geritten, das unmittelbar nach der Ankunft zusammengebrochen und gestorben war; er hatte es zu Tode geritten. Die Hufeisen waren völlig heruntergelaufen, bis in das Horn der Hufe, und sein Maul und
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