Kells Legende: Roman (German Edition)
wenn ich es könnte, doch selbst diese einfache Freude ist mir verwehrt.«
»Ich kann das nicht!« Jetzt endlich erlaubte Leanoric seinen Tränen, über seine Wangen zu laufen. Derselbe Leanoric, der nur selten im Kampf besiegt worden war, der Sohn des großen Kriegerkönigs, der einen Angriff gegen die Gradillians im Westen geführt hatte, wobei er einen Schwertstreich gegen den Kopf hatte hinnehmen müssen, der ihm den Schädel gebrochen und Knochensplitter hatte hervorstehen lassen, und dabei nicht einmal gewimmert hatte. Jetzt jedoch zeigte derselbe Leanoric offen seine Furcht und seine Qual und ließ seinen Tränen freien Lauf, aus Augen, die an das Weinen nicht gewöhnt zu sein schienen.
»Lass es heraus, mein Sohn«, forderte Searlan ihn liebevoll auf. »Scheue dich nie, zu weinen. Ich weiß, dass ich dir immer das Gegenteil eingehämmert habe …« Er lachte hustend. »Aber ich wollte dich stark machen und dich auf deine Königswürde vorbereiten. Du begreifst doch, mein Junge, um was ich dich bitte? Du tust es nicht nur für mich, sondern für euch alle und für ganz Falanor. Das Land braucht einen starken König, einen Anführer. Keinen sabbernden alten Narren in einem Stuhl, der sich weder den Hintern abwischen noch in die Schlacht reiten kann.«
Leanoric sah seinem Vater in die Augen, fand jedoch keine Worte.
»Nimm den dünnen Dolch, der auf der Truhe hinter dir liegt. Ich habe eine Wunde, hier auf der Brust, von einem Kampf mit Elias vor ein paar Tagen; bei den Göttern, dieser Mann ist verdammt schnell. Eines Tages wird er ein wahrer Schwertkämpfer sein, ein Champion! Ich möchte, dass du mir das Herz durchbohrst, und zwar durch diese Wunde hindurch. Danach verstopfe sie mit Baumwolle, damit kein Blut durch den Raum spritzt. Es wird aussehen, als wäre ich im Schlaf gestorben, als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen.«
»Das kann ich nicht tun, Vater. Ich kann es dir nicht antun. Ich kann dich nicht …«, er rollte das Wort im Mund, als würde er es schmecken, »ermorden.«
»Du närrischer Bengel!«, fauchte Searlan ihn an. »Hast du denn kein einziges Wort von dem, was ich sagte, verstanden? Sei stark, verflucht, oder ich hole eine der Dienstmägde, damit sie es tut, wenn du nicht genug Mumm dafür hast!«
Leanoric stand auf, unfähig, etwas zu sagen, und nahm den Dolch, wie befohlen. Dann holte er ein Baumwolltuch und legte es über das Herz seines Vaters. Er blickte in die Augen des alten Mannes, sah, wie Searlan lächelte und lautlos die Worte mit den Lippen formte: »Tu es!« Er stach zu, lehnte sich auf den Griff des Dolches, knirschte mit den Zähnen und biss die Kiefer zusammen, während sich seine Muskeln anspannten, als Searlan sich verkrampfte. Mit äußerster Willenskraft unterdrückte der alte König einen Schrei oder Tränen, und stieß nichts weiter hervor als ein geflüstertes: »Ich danke dir.«
Leanoric säuberte die Klinge und legte den Dolch wieder auf die Kiste zurück. Er reinigte die Wunde seines Vaters mit einem Schwamm und Wasser und erneuerte den Verband über der alten Wunde, die ihm Elias’ Schwert zugefügt hatte. Dann zog er langsam, weil seine Hände sich weigerten, richtig zu funktionieren, die Decke über Searlans Leichnam. Sanft legte er seine Hände auf die Augen seines Vaters und schloss sie, dankte ihm lautlos dafür, dass er ein Held gewesen war, ein großer König, vor allem jedoch ein vollkommener Vater.
Jetzt saß Leanoric auf seinem Streitross, das Gewicht des ganzen Landes auf seinen gebeugten Schultern, holte tief Luft und wischte eine Träne aus seinen Augenwinkeln, die der Erinnerung geschuldet war. Ich hoffe, dachte er, dass ich im Moment meines eigenen Todes ebenso viel Mut an den Tag lege.
Pferdegetrappel näherte sich. Es war Elias, der Schwertchampion von Falanor und Leanorics rechte Hand, General, Taktiker und Ratgeber. Elias salutierte und ritt dicht neben ihn. »Einer unserer Kundschafter kommt dort hinten.«
»Aus Jalder?«
»Nein. Er trägt die Livree des Herbstpalastes.«
»Alloria?« Leanoric runzelte die Stirn. Es kam nur sehr selten vor, dass Alloria ihn störte, wenn er bei der Armee war. Und sie würde nur dann einen Boten schicken, wenn es einen … einen echten Notfall gab. Kälte und ein Gefühl von Furcht durchströmten ihn.
Das Pferd des Kundschafters war völlig schweißbedeckt, als es in das Lager galoppierte. Leanoric trieb sein eigenes Pferd an und ritt ihm mit Elias im Schlepptau entgegen. Soldaten halfen dem
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