Kells Rache: Roman (German Edition)
bald entscheidest, mir zu helfen. Denn damit wirst du … uns allen helfen.«
Kradek-ka machte eine Handbewegung, und Anukis drehte sich herum. Sie starrte die Schnitter an, die stumm in der Tür standen. Sie zählte etwa zwanzig von ihnen, doch konnte sie sehen, dass sich jenseits des Eingangs noch mehr bleiche, knochige Gestalten in der surrealen, dunstigen Dämmerung dieses Knochenortes verloren.
Anukis fuhr ihre Reißzähne und Krallen aus, aber Kradek-ka drückte ihre Hand. »Nein. Sie sind Freunde.«
»Sie haben mich gejagt!«
»Aber jetzt bist du hier. Jetzt bist du in Sicherheit. Sie begreifen das größere Spiel nicht. Ich dagegen schon.«
Anukis starrte die Schnitter an, scharf, mit zusammengekniffenen Augen, während ihr Verstand wie ein Mahlstrom durch ihren Kopf brauste. Alles fühlte sich irgendwie falsch an. Nichts war so, wie es sein sollte. Die Welt schien … sich festgefressen zu haben, wie ein altes Uhrwerk. Wie eine verrostete Rätselbox.
Plötzlich stand Kradek-ka auf und zog Anukis mit sich hoch. Seine Augen glänzten. »Verstehst du denn nicht, Anu? Ich habe dich zu etwas Besonderem gemacht! Ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund besonders gemacht! Es wird der Tag kommen, an dem wir Vachine uns zurückbilden werden! Wir werden zu einem Status einer Zeit uralter Macht zurückkehren, uralter Herrschaft!« Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. »Jetzt leben wir nur aus zweiter Hand, werden durch Uhrwerkmaschinen am Leben erhalten!« Er spie auf den Schreibtisch, wo Tausende von winzigen, komplizierten Apparaturen lagen. »Das ist nicht immer so gewesen.«
»Du hast die Vachine gerettet.« Anus Stimme klang kläglich.
»Ich habe sie verflucht!« Seine Augen funkelten. »Und jetzt werde ich den Fluch aufheben!«
»Wie meinst du das?«
»Wir werden die Kriegsfürsten der Vampire zurückholen, Anu«, erklärte er. »Und dann wirst du sehen, wozu diese Rasse fähig ist!«
Alloria, die Königin von Falanor, die Gemahlin des Kriegerkönigs Leanoric, des Wächters aller Staaten von Falanor, nahm den Augenblick wahr, in dem ihr Ehemann fiel. Es fühlte sich an, als hätte sie selbst einen Stich ins Herz bekommen.
Sie hatte einen hohen Bergpass überquert, kurz nachdem sie Anukis verlassen hatte, die ihrerseits mit der Ingenieursbarke weitergefahren war, um ihren Vater zu suchen. Königin Alloria war jetzt allein. Sie hatte einen Beutel mit etwas Proviant und zusätzlicher Kleidung dabei, die Anukis ihr aus der Vorratskammer der Barke gegeben hatte. Im Augenblick ging sie gerade über einen besonders tückischen Pfad mit scharfen, vereisten Steinen, eine steile, glatte Felswand zu ihrer Rechten und einen ungeheuren Abgrund von mehr als eintausendfünfhundert Metern zu ihrer Linken, mit steilen, von Geröll bedeckten Hängen, die in einem Gewirr aus gewaltigen, eckigen Felsen endeten. Ihre Hände, die einst so zierlich und manikürt gewesen waren, mit perfekt gefeilten Nägeln, auf die winzige Szenen gemalt waren und deren Haut so weich von Fettcremes und Salben war, waren jetzt hart und schorfig und schmutzig. Sie streckte die Hände au s und legte sie auf die Felswand, haltsuchend, damit ihr nicht schwindlig wurde und sie in den Abgrund stürzte. Wahrscheinlich hysterisch lachend, während sie um sich tretend und kreischend fiel, um schließlich als blutiger, zerschmetterter Leichnam am Fuß des Hanges zu enden.
Alloria holte tief Luft und beruhigte sich.
In dem Moment kam der Schmerz. Er zuckte durch ihr Herz wie eine Rasierklinge, und sie keuchte. Sie hörte seinen Schrei über all die Meilen hinweg. Er fegte durch die Himmel, über die Berge, überwand das Nichts; Alloria wusste in diesem Moment ebenso sicher, wie die Sonne aufgehen würde, dass Leanoric, ihre wahre Liebe, der Mann, den sie betrogen hatte und der ihr, gegen alle Wahrscheinlichkeit, verziehen hatte … sie wusste, dass dieser Mann tot war.
Alloria rang keuchend nach Luft und fiel auf die Knie. Über ihr glitt ein Adler hinweg, sank dann herab und verschwand in der gewaltigen Schlucht. Alloria umklammerte ihren Busen. Der Schmerz war schrecklich, und sie hörte Leanorics Schrei, der plötzlich erstarb, in dem Augenblick, als er niedergemetzelt wurde.
»O nein, nein!«, flüsterte sie. Zu mehr war sie nicht fähig. Sie kniete sich auf den felsigen Pfad, wiegte sich vor und zurück, während Verzweiflung sie erfüllte wie schwarze Tinte ein Fass, bis zum Rand.
Sie kniete dort lange Stunden. Und weinte. Sie
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