Kells Rache: Roman (German Edition)
weinte wegen seines Todes. Sie weinte um ihre Jungen. Und sie weinte wegen ihres Betrugs an Falanor, wegen ihres dummen, närrischen Betrugs. Die Erinnerung daran wollte einfach nicht von ihr weichen, sie konnte den Gedanken nicht ertragen, der drohte wie ein Dämon ihre Seele förmlich zu ersticken.
Erst als die Dunkelheit kam und sie den fernen Ruf von Wölfen hörte, kam wieder Leben in sie. Sie rappelte sich müde hoch, vollkommen erschöpft, nahezu unmenschlich müde. All das war zu viel gewesen; die Invasion, die Vergewaltigung, der Missbrauch, die Entführung. Und jetzt, nachdem ihr Ehemann tot war … und sie wusste, dass er unwiederbringlich verschwunden war, jetzt gab es nicht mehr viel, wofür sie hätte leben können. Was ist mit deinen Kindern?, fragte die winzige Stimme ihres Gewissens. Sie lächelte, dort auf diesem Felsvorsprung, während die Wolken hoch über ihr über den Himmel zogen und die ersten Schneeflocken vom Wind herangetrieben wurden. Natürlich, ihre Kinder. Der süße Oliver und der gutaussehende Alexander. Oh, wie sehr sie die beiden vermisste. Sie tastete sich in der rasch heraufziehenden Dämmerung vorsichtig weiter. Andererseits, wer konnte schon sagen, ob sie nicht ebenfalls ermordet worden waren? Sie waren bei Leanoric gewesen, als er seine Armeen in jenen letzten, schicksalhaften Tagen seiner Regentschaft inspiziert hatte. Ganz gewiss waren sie doch auch in der rasch um sich greifenden Panik, die der Invasion von Graals Eiserner Armee gefolgt war, bei ihm gewesen? Die Albinos waren auf Jalder marschiert, dann rasend schnell weiter nach Süden, hatten jede Stadt, jedes Dorf und jede Siedlung erobert, auf die sie gestoßen waren. Nur wenige waren ihnen entkommen, und die, die es geschafft hatten, waren am Ende von den schrecklichen Bestien gejagt worden, die man Canker nannte.
Alloria schüttelte sich erneut und blickte hoch. Der Himmel über ihr verdunkelte sich rasch. Er wirkte beinahe samten auf sie. Sie verfluchte sich, verfluchte sich für ihr Selbstmitleid und dafür, dass sie zu viel wusste. Graal. Graal! Sie legte ihre Hände an ihre Brust und erinnerte sich an die Juwelen.
Während sie kniete und weinte, zog die Nacht auf, und die Wildheit der Natur um sie herum regte sich. Jetzt würden die Schwarzspitzen ihren Mut erproben, ihre Beweglichkeit, ihr Durchhaltevermögen – und ihre Courage.
Alloria stolperte über einen Felsbrocken und wäre ums Haar doch noch in den Abgrund gestürzt. Keuchend, die Hände vom rauen Fels aufgeschürft, ging sie weiter, während sie sich unablässig einredete, dass Oliver und Alexander noch lebten, dass Leanoric die Voraussicht besessen hatte, sie irgendwo anders in Sicherheit zu bringen. Aber in ihrem Herzen, ihrer Seele glaubte sie nicht daran … auch wenn sie den Tod ihrer Kinder nicht so deutlich hatte wahrnehmen können wie den ihres Königs, ihres Ehemanns, ihres Geliebten und letztendlich ihres Seelenverwandten.
Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich zu dem gewaltigen Abgrund herum. Sie konnte ihn nicht länger sehen, denn die Nacht in den Bergen war so dunkel, wie sie noch keine Nacht erlebt hatte. Man konnte überhaupt nichts mehr sehen, und auch all ihre Sinne und ihre Seele schienen in der Dunkelheit versunken zu sein. Sie wusste, dass der Abgrund noch dort war, sie spürte seine klaffende Präsenz, die ungeheure Leere, die Kälte, die Luft. Schneeflocken landeten in ihrem Haar. Sie achtete nicht darauf und trat an den Rand.
Ich sollte ebenfalls sterben. Der Gedanke kam ihr in dem Moment vollkommen klar.
Es gab nichts mehr, wofür zu leben sich lohnte.
General Graal hat gewonnen.
»Wartet, kleine Lady«, flüsterte es leise.
Alloria zuckte zusammen, erschreckt von dieser sanften Stimme. Sie erkannte den Tonfall, und doch schienen die Worte ihr gleichzeitig fremd zu sein. Sie zitterte beinahe krampfhaft vor Furcht, als das Adrenalin durch ihren Körper toste, voller Furcht wegen ihres bevorstehenden Selbstmordes.
»Ich kann Euch nicht sehen!«, zischte sie.
»Aber ich sehe Euch«, antwortete die Stimme. Sie war gleichzeitig sanft, machtvoll, barsch und gnadenlos. Im nächsten Augenblick packten starke Hände sie und zogen sie von dem Vorsprung zurück. Unter ihr landeten Eisplatten auf unsichtbaren Felsen und zerbarsten krachend.
»Vashell? Seid Ihr das?«
»Ja«, antwortete die dunkle, kräftige Stimme des Vachine. »Ich bin es.«
»Seid Ihr mir gefolgt?«
»Sagen wir, wir haben zufällig denselben Weg«,
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