Kells Rache: Roman (German Edition)
ausmalen können.
»Anu?«
»Vater!«
Kradek-ka erhob sich von dem weichen, gepolsterten Lederstuhl. Anukis stürmte zu ihm, warf sich in seine Arme, er grub sein Gesicht in ihre goldenen Locken, und sie gab sich seinem Duft hin, dem Geruch nach Tabak, Uhrwerköl und heißem Metall. Er roch noch immer wie früher. Er hatte seine Arme fest um sie geschlungen und vertrieb ihre Sorgen. Sie weinte, war wieder ein kleines Mädchen. Ihre Tränen fielen auf seine Lederschürze. Schließlich schob der alte Uhrwerker sie sanft zurück und lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, das sich auf dem uralten, runzligen Gesicht des Vachine abzeichnete.
»Was tust du hier? Dies hier ist ein sehr gefährlicher Ort!«
»Ich habe nach dir gesucht. Um dich zu retten!«
»Mich zu retten? Nein. Nein, nein! Hast du denn meinen Brief nicht gelesen?«
»Welchen Brief?« Anukis runzelte verwirrt die Stirn.
Kradek-ka schnalzte gereizt mit der Zunge. »Ich habe einen Brief für dich zurückgelassen, bei Vashell. Als mir klar wurde, dass ich wegmusste.«
»Vashell war … sehr böse. Er war böse zu mir.«
Jetzt runzelte Kradek-ka die Stirn. Plötzlich war sein Gesicht nicht mehr das freundliche Gesicht eines alten Vachine; jetzt wirkte es bedrohlich, und plötzlich sah er unendlich gefährlich aus, wie ein tödlicher Feind.
»Das erklärt vieles«, erwiderte er leise und trat zu einer Werkbank. Zerstreut hob er ein winziges Uhrwerkgerät h och und machte sich an dem feinen Mechanismus zu schaffen. Als sich seine Hände bewegten, veränderte sich die U hrwerkmaschine, verwandelte sich, ganze Abschnitte sprangen hervor, überschlugen sich, arrangierten sich neu in einem komplizierten Muster, immer und immer wieder, in einem scheinbar unendlichen Zyklus. Schließlich legte Kradek-ka den Gegenstand wieder zurück.
»Was passiert hier, Vater? Ich bin verwirrt. Warum bist du hier? Was tust du hier? Die Blutraffinerien versagen, die Vachine von Silvatal … dein Volk … es hungert!«
»Du musst dich für das wappnen, was ich dir sagen werde«, antwortete Kradek-ka. Seine Augen wirkten jetzt plötzlich alt, äonenalt, und Anukis überlief ein Frösteln. Auf eine eigenartige Weise ähnelte Kradek-ka plötzlich nicht länger ihrem Vater, obwohl sich seine Gesichtszüge nicht verändert hatten. Plötzlich wirkte er fremd auf sie, wie eine vollkommen andere Kreatur.
»Das klingt nicht gut«, meinte Anukis leise und ließ sich von ihrem Vater zu einer niedrigen Couch führen. Sie setzte sich hin. Kradek-ka nahm wieder auf seinem Stuhl Platz, ohne jedoch ihre Hände loszulassen.
»Die Blutraffinerien versagen, weil …« Er sah einen Moment zur Seite, als ihm Tränen in die Augen zu steigen schienen; immerhin Tränen aus Blutöl. »Sie versagen, weil ich sie so gebaut habe.«
»Was? Du willst die Vachine töten?«
»Aber nein! Jedenfalls nicht direkt. Aber ich musste gewisse Ereignisse in Gang setzen. Ich musste dafür sorgen, dass General Graal oder irgendjemand anders die Eiserne Armee nach Süden führte. Dass er in Falanor einfiel. Es die nte einem größeren Zweck.« Seine Stimme sank zu einem leisen Grollen herunter. »Einem höheren Zweck.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das kannst du auch nicht.« Er lächelte.
Anu kis gefiel sein Lächeln überhaupt nicht. »Was machst du da, Vater? Du hast uns im Stich gelassen! Shabis ist tot!«
»Das weiß ich«, erwiderte Kradek-ka. Seine Miene war ernst, und seine Augen glänzten. »Aber es musste so kommen.«
»Ich habe sie getötet«, sagte Anukis und ließ schuldbewusst den Kopf hängen.
»Das weiß ich ebenfalls.«
»Und du hasst mich nicht dafür?«
»Du bist rein, Anu.« Er lächelte plötzlich. »Shabis hat ihren Weg selbst gewählt, und es war der falsche Weg. Du bist zu mir gekommen, du hast mich aufgesucht. Ich habe gehofft, dass es so kommen würde. Denn zusammen können wir die übrigen Seelengemmen finden, und dann können wir …« Er verstummte plötzlich und presste die Lippen fest zusammen.
»Das ist ausgesprochen seltsam«, meinte Anukis. »Es kommt mir vor wie ein surrealer, durch Drogen hervorgerufener Traum. Habe ich mich an Blutöl berauscht? Halluziniere ich und liege in Wirklichkeit in meiner Wohnung in Silvatal? Wird Vashell einen Heiler holen, um das Gift aus meinem Körper zu bluten? Sag mir, dass es so ist.«
»Ich habe dir sehr viel zu erzählen, Anukis. Ich habe so viel zu erzählen. Du wirst schon bald verstehen. Und ich hoffe, dass du dich auch
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