Kerstin Dirks & Sandra Henke - Vampirloge Condannato - 01
blickte ein älterer Herr mit Schnauzbart und roten Pauspacken.
„Guten Abend, Miss. Dürfen wir Euch ein Stück mitnehmen?“
Ich lächelte erleichtert. Der Herrgott hatte mir tatsächlich ein weiteres Mal aus der Patsche geholfen und mir diesen gütigen Engel gesandt. Mister Stuart Wimbley war ebenfalls auf dem Weg nach London und als er mich auf der Landstraße sah, hatte er den Einfall, mich mitzunehmen. Die Fahrt war sehr angenehm, ich hatte genügend Zeit meine Kräfte zu sammeln und mir Gedanken zu machen, wie ich Jeremy finden und gegebenenfalls
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aufhalten wollte. Am Stadttor trennten sich unsere Wege. Ich sprang aus der Kutsche und bedankte mich herzlich. „Es wäre mir eine Freude, Euch jederzeit wieder zu kutschieren“, sagte Mister Wimbley und winkte mir zum Abschied. Ich hob ebenfalls die Hand, dann machte ich mich auf den Weg zum Hafen.
Es regnete in Strömen, schon nach den ersten Schritten war ich vollkommen durchnässt. Dicke Perlen tropften von meinen blonden Haaren. Das Wetter passte zu meiner Stimmung. Klitschnass eilte ich durch die Londoner Gassen. Der Wind rauschte in meinen Ohren, wieder und wieder schlug mir der Regen unbarmherzig ins Gesicht, als wollte er mich aufhalten. Ich bog gerade in die Eaton Street ein, als ich einen Schatten hinter einem Haus verschwinden sah.
„Hallo? Ist da jemand?“
Keine Antwort.
Ich hatte das unbestimmte Gefühl beobachtet zu werden. Mein Körper verkrampfte sich. Misstrauisch blickte ich mich um, aber die Straße war menschenleer. Nicht einmal Ratten trauten sich bei diesem Unwetter ins Freie.
Verunsichert ging ich weiter. Die Häuser schienen plötzlich Augen und Ohren bekommen zu haben. Ich legte einen Schritt zu und war heilfroh, als ich die Eaton Street endlich hinter mir lassen konnte. Im Hafen von London hatten Handelschiffe aus allen Teilen der Welt angelegt. Die Gegend war nicht halb so verrucht und zwielichtig, wie ich es erwartet hatte. Nur eine Dirne lief mir zufällig über den Weg.
„Hey, Schätzchen, das ist mein Revier. Verzieh dich!“, zischte sie durch die Zähne und formte die Hände zu Klauen, als wollte sie mir die Augen auskratzen.
„Ich suche nur einen Freund“, rechtfertigte ich mich und beeilte mich, von ihr wegzukommen. Wie konnte die Frau bei dem Wetter bloß ihrem Gewerbe nachgehen? Hier draußen holte sie sich den sicheren Tod! ‚Genau wie du selbst’, erinnerte ich mich in Gedanken und lief die Anlegestelle herunter, vorbei an Lagerhallen, Speichern und gestapelten Kisten. Ich zitterte am ganzen Körper vor Kälte. Meine Kleidung war durchgeweicht, der Regen kannte kein Erbarmen, sogar die Bordwachen hatten sich unter Deck zurückgezogen.
Wie sollte ich Jeremy hier jemals finden? Der Regen nahm mir die Sicht und der Hafen war viel zu groß, als dass ich ihn in einer Nacht hätte absuchen können. Vielleicht hatte er sich längst ein neues Opfer gesucht und befand sich auf dem Heimweg?
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Plötzlich hörte ich eine tiefe Stimme aus einem abseits gelegenen Speicher. Ich war zu weit weg, um den Mann zu verstehen. Deshalb schlich ich mich näher heran und fing ein paar Bruchfetzen des Gesprächs auf.
„Es gibt keinen Zweifel, Wellingham. Unsere Informanten haben bestätigt, dass der gesuchte Vampir clanlos ist. Vielleicht ist er ein ehemaliges Mitglied des ‚Audax Zirkels’. Aber selbst die haben mehr Stil. Dies war nicht sein erster Mord. Der Kerl zieht eine Blutspur hinter sich her, die durch ganz England fließt. Bisher konnte ihn keine ‚Loge’ fassen.“ „Wir stecken in Schwierigkeiten.“
Das war Jeremys Stimme! Ich erkannte sie sofort. Vorsichtig schlich ich mich zu dem Speicher und lehnte mich an die seitliche Holzwand. So gut es mir möglich war, versuchte ich dem Gespräch zu folgen. Die Ritzen zwischen den einzelnen Brettern waren groß genug, dass ich sogar einen Blick auf die zwei Gestalten im Inneren der Halle erhaschen konnte. Sie standen zwischen gestapelten Kisten, Fässern und Getreidesäcken, die schon morgen in die neue Welt verschifft würden.
„Es bleibt uns keine andere Wahl, Logan. Ich danke Euch, dass Ihr mich gewarnt habt. Wenn er tatsächlich der Raserei verfallen ist, stellt er nicht nur eine Gefahr für die Menschen, sondern auch für die ‚Logenverbände’ dar. Wir müssen ihn ausschalten.“
Raserei? Logenverbände? Trotz des strömenden Regens hatte ich ihre Worte
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