Ketten der Liebe
ungläubigen Gesichtsausdruck des Grafen sah. Wenn er wüsste!
Ihr blieb indes keine Zeit, ihre Gefühle für Jermyn weiter zu ergründen. Denn das vereinbarte Spiel hatte begonnen. Aber später, wenn das Drama vorüber und der Schurke überwältigt war, wollte sie ausführlich mit Jermyn sprechen. Sie würde ihm rundheraus ihre Liebe gestehen. Und sie würde ihn fragen, ob er ihre Gefühle erwiderte, würde sich in seiner Umarmung verlieren und ...
»Northcliff hat uns nämlich gebeten, Ihnen all die Leute vorzustellen, die Sie noch nicht begrüßt haben«, sagte Kenley ein wenig verstimmt. »Aber wie sollen wir unserer Pflicht nachkommen, wenn Sie uns keine Aufmerksamkeit schenken?«
Amy löste sich von ihren Schwärmereien und richtete ihr Augenmerk auf das Hier und Jetzt. »Die beiden Herren dort drüben kenne ich zum Beispiel noch nicht.«
Lord Howland kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen und schaute zu den beiden älteren, tadellos gekleideten Herren, die mit ernsten Mienen bei der eisgekühlten Bowle standen. »Meine Augen sind zu schlecht«, meinte er. »Kannst du die beiden erkennen, Kenley?«
»Ich hätte nicht gedacht, diese beiden jemals außerhalb Londons anzutreffen!«, rief der Graf erstaunt aus. »Das sind Mr. Irving Livingstone und Oscar Ingram, der Graf von Stoke.«
»Ach wirklich?«, erwiderte sein Bruder. »Ich frage mich, was die beiden bewogen hat, hierherzukommen.« Schließlich wandte Howland sich Amy zu und erklärte: »Das waren enge Freunde von Jermyns Vater. Früher sind sie oft hier zu Besuch gewesen, müssen Sie wissen, aber seit dem Tod des alten Marquess haben sie London kaum je verlassen. Ich staune, dass Northcliff daran gedacht hat, die Herren einzuladen.«
»Ich glaube nicht, dass er sie eingeladen hat.« Da war Amy sich sehr sicher, hatte sie selbst doch die Gästeliste studiert, um sich schon im Vorfeld mit all den Namen vertraut zu machen. Aber die Namen dieser beiden Herren hatte sie nicht gelesen.
Kenleys Stimme nahm einen schwärmerischen Ton an. »Und schaut euch doch diesen Gentleman dort an. Wie gut der aussieht! So gerissen und männlich. Gar nicht der Typ, der zu einer festlichen Veranstaltung der besseren Gesellschaft passt.«
»Wen meinen Sie?«, fragte Amy nach.
»Er steht dort hinten neben dem Baumstumpf.«
Nun hatte auch sie ihn entdeckt.
Er beobachtete sie.
Natürlich sah sie sich den Blicken vieler Gäste ausgesetzt. Immerhin war sie Jermyns Verlobte und daher nicht unbedeutend.
Aber die Art und Weise, mit der dieser Unbekannte sie beobachtete, ließ sie nachdenklich werden. Er sah wirklich gut aus, und Kenley hatte treffend beschrieben, dass der ganzen Erscheinung des Fremden etwas Gerissenes und Männliches innewohnte. Er musterte sie richtiggehend, und als er merkte, dass sie zu ihm schaute, nickte er ihr zu, als wolle er ihr etwas mitteilen.
Aber Amy verstand nicht, was der Fremde ihr sagen wollte.
»Sieh an!«, sagte Kenley beinahe neidisch. »Sie scheinen sein Herz im Flug erobert zu haben. Kennen Sie den Herrn?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte sie. Aber sie vermochte den Blick nicht von ihm zu wenden. Etwas an ihm kam ihr vertraut vor ...
»Hier kommt ja Lord Northcliff«, sagte Kenley.
Augenblicklich hatte Amy den Fremden vergessen. Auch Kenley, dessen Bruder und die anderen Gäste blendete sie aus. Denn Jermyn kam mit langen Schritten auf sie zu; sein kastanienbraunes Haar leuchtete im Sonnenlicht, ein Lächeln lag in seinen braunen Augen, seine Kleidung war tadellos. Und er gehörte ihr. Ihr allein.
»Ist dir schon aufgefallen, dass unser Freund niemanden mehr wahrzunehmen scheint, wenn seine Prinzessin in der Nähe ist?«, wandte Lord Howland sich an seinen Bruder.
»Das brauchst du nicht extra zu betonen«, kam es wehmütig von Kenley. Doch sowie Jermyn in Hörweite war, entbot der junge Graf ihm mit der behandschuhten Rechten seinen Gruß. »Ah, mein Freund, wie gut du heute Nachmittag aussiehst!«
»Danke. Ich fühle mich auch gut.« Er umschloss Amys Hand mit beiden Händen. »Solange meine Prinzessin da ist.«
Amy errötete. Wenn Jermyn sie in dieser bewundernden Weise anschaute, stellte sich bei ihr ein Gefühl von Wärme ein. Sie verspürte Verlangen in sich aufsteigen und fühlte sich lebendiger denn je. Und dann wünschte sie, sie könne wieder mit ihm allein sein und die Leidenschaft genießen, die zwischen ihnen brannte.
Immer wenn sie ungestört waren, lagen sie einander in den Armen und entdeckten neue
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