Kettenreaktion - Die Geschichte der Atombombe
gerade Linien durch die Welt zu ziehen. Straßen, Feldwege, Kirchturmspitzen und Windräder auf einsamen Gehöften dienen ihm als Flucht- und Orientierungspunkte. Im Sommer 1942 ist er im Auftrag des Army Corps of Engineers in der Gegend von Knoxville, Tennessee, unterwegs, die von Zwergeichenwäldern auf Sandsteinhügeln geprägt ist. Hier soll er einen ersten Eindrück vom Gelände der künftigen Fabrikanlagen zur Urananreicherung gewinnen. Wie werden die Bewohner auf die Ankündigung reagieren, dass ihr Besitz enteignet und zwangsgeräumt werden soll? Anfangs hat Thacker das 350 Quadratkilometer umfassende Areal als Trapez mit schnurgeraden Seitenlinien im Kopf. Aber als er das ganze Karree zu umwandern beginnt, sich auf Landschaft und Menschen einlässt, erhält er ein anderes Bild. Die Farmer haben die Bachverläufe verändert, stauen sie je nach Bedarf an oder leiten sie zu Viehtränken um, was den in Planquadraten denkenden Militärs nicht gefallen kann. Hier muss noch einiges ausgetrocknet, gerade gerückt und eingeebnet werden.
Der Landvermesser zählt 1100 Familien, die auf 900 Bauernhöfen mit eigenem Ackerland und in winzigen Dörfern wohnen. Er redet mit den Farmern, die Tabak und den Whiskey-Rohstoff Roggen anbauen, fotografiert sie bei der Heuernte und lässt sich ihre privaten Begräbnisstätten zeigen, ein Privileg dieser Gegend. Das heikle Thema der Umbettung der Toten will er lieber nicht ansprechen. Obendrein registriert er 48 kleinere Friedhöfe mit insgesamt rund 6000 Gräbern [Hal:11]. Bei dem Besuch auf «Opa Edwards» Farm, die aus einem Bilderbuch des ländlichen Amerika stammen könnte, fällt es ihm besonders schwer, sich die bevorstehende radikale Umwandlung der ärmlichen Landschaft in ein Industriegebiet mit kilometerlangen, streng bewachten Fabrikhallen vorzustellen. Thacker stammt selbst aus dieser Gegend, und es gibt hier noch ein paar Thackers, deren Häuser ebenfalls der Planierraupe zum Opfer fallen werden. Am Ende der Erkundung ist er dann doch überrascht von der Kooperationsbereitschaft der Menschen. Es werde keine nennenswerten Schwierigkeiten geben, sobald das Zauberwort «Kriegsanstrengungen» falle, schätzt Thacker in einem Bericht an den Manhattan Engineer District die Lage vor Ort ein. Vielleicht aber sollte man, so schlägt er vor, als vertrauensbildende Maßnahme die Gutachter zur Schätzung der Grundstücke und Immobilien aus der Gegend von Knoxville rekrutieren. Die künftige Uranfabrik nahe der Kleinstadt Clinton bekommt den Codenamen «Standort X».
Für Fermis Plutoniumreaktor soll Oberst Franklin Matthias ein vielversprechendes Gelände noch einmal abschließend begutachten. Kundschafter des MED haben es bereits als fast menschenleer bezeichnet. Auf dem kargen Grasland weideten nur Schafherden. Allerdings eigne sich der Boden hervorragend zum großflächigen Gießen von Betonfundamenten. Das Gebiet ist fünfmal so groß wie das Terrain in Tennessee, das Thacker sich noch zu Fuß erobert hat. Auf die günstige Prognose des Vorauskommandos bauend, begnügt sich Matthias im eisigen Dezember 1942 mit einem Flug über den Landkreis Benton in Washington, dem nordwestlichsten Bundesstaat der USA. In der winterstarren Einöde kann er natürlich weder die blühenden Plantagen der Obstbauern ausmachen, noch die wogenden Getreidefelder im Süden oder spielende Kinder in den Dörfern am breiten Columbia River sehen. Und so bestätigt er das Urteil seiner Vorgänger und gibt zu Protokoll, das geplante Areal sei eine «weite Sandsteppe ohne nennenswerte Vegetation … Die Ortsansässigen nennen es wertloses, ‹räudiges› Land» [Hal:23].
Die Gegend von Hanford erfüllt die Sicherheitsanforderungen, die General Groves an den Standort der künftigen Plutoniumfabrik stellt: Abgeschiedenheit, dünne Besiedlung und ein großer Fluss, der das Kühlwasser liefert. Der militärische Leiter des Manhattan-Projekts ist bestens informiert über die verheerenden Folgen eines möglichen Unfalls mit frei werdender Radioaktivität im Atommeiler und verlangt eine unbewohnte Sicherheitszone von 20 Kilometern um den «Standort W». Er will sogar untersuchen lassen, ob das in den Columbia River zurückgeleitete, radioaktiv belastete Kühlwasser die Lachse und Regenbogenforellen schädigen könnte. Seinem Projektleiter Matthias rät er, nicht wegzulaufen, wenn der Reaktor hochgehen sollte, sondern mitten hineinzuspringen, weil ihm das eine Menge Ärger ersparen könnte [San:77]. Die
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